Il Machia war kein besonders religiöser Mensch, aber er war ein Christ. Er mied sonntags die Messe, hielt aber alle anderen Religionen für falsch. Er fand, dass die Päpste für die meisten Kriege seiner Zeit verantwortlich waren, und hielt viele Bischöfe und Kardinäle für Kriminelle, nur gefiel den Kardinälen und Päpsten besser als den Fürsten, was er über die Natur der Welt zu sagen hatte. Vor seinen Saufkumpanen schimpfte er darüber, wie sehr die Korruption der Kurie dem Glauben der Italiener schadete, doch war er kein Ketzer, ganz gewiss nicht, und auch wenn er bereitwillig das ein oder andere von der Herrschaft des muselmanischen Sultans lernte, sie sogar lobte, wurde ihm doch schon von dem Gedanken übel, man könne freiwillig in die Dienste eines solchen Potentaten treten.

Und dann war da noch die Sache mit dem Gedächtnispalast, dieser schönen Frau, Angelique Cceur de Bourges, Herz eines Engels, deren Geist und Körper so malträtiert worden waren, dass sie keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als durch ein Fenster in den Tod zu springen. Aus naheliegendem Grund konnte diese Angelegenheit nicht in Anwesenheit seines Weibes zur Sprache gebracht werden, denn Marietta neigte zur Eifersucht, eine Charakterschwäche, an der er nicht unschuldig war, war er doch ein alter Mann voller Liebe, nur eben nicht für seine Frau, die er jedenfalls nicht auf diese Weise liebte, sondern für das Mädchen Barbera Raffacani Salutati, eine Altistin, die so herrlich sang und auch sonst manches gar wundervoll anzustellen wusste, und dies nicht bloß auf der Bühne, ja, Barbera, Barbera, ach. Nicht mehr so jung wie einst, doch immer noch jünger als er selbst und unerklärlicherweise bereit, in Zeiten ihrer blühenden Schönheit einen grauhaarigen Alten zu lieben … Kurz und gut, wollte er derlei zur Sprache bringen, schien es ihm angesichts der möglichen Konsequenzen besser, sich vorläufig auf die Fragen von Blasphemie und Verrat zu konzentrieren.

«Edler Pascha}}, grüßte er seinen Jugendfreund, die buschigen Augenbrauen zu spitzer Missbilligung hochgezogen, «was führt einen Heiden hierher in dieses christliche Land?»
«Ich möchte um einen Gefallen bitten», erwiderte Argalia, «doch nicht für mich.»

Über eine Stunde saßen die beiden Jugendfreunde allein in Il Machias Schreibstube, umgeben von Büchern und Papierstapeln. Es wurde bereits dunkel. Viele Dorfbewohner zogen sich zurück, da sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern mussten, viele aber blieben auch. Reglos saßen die Janitscharen auf ihren Rössern, ebenso die beiden Damen, die nur eine Schale Wasser von der Magd der Machiavelli entgegennahmen. Als schließlich die Nacht anbrach, traten die beiden Männer aus dem Haus, und es war nicht zu übersehen, dass sie eine Art Waffenstillstand geschlossen hatten. Auf ein Zeichen von Argalia saßen die Janitscharen ab, und Argalia half Qara Köz und Spiegel eigenhändig von den Pferden. Die Soldaten kampierten für die Nacht auf dem Grundstück, einige auf einem kleinen Feld bei Greve, andere in den poderi von Fontalla, Il Poggio und Monte Pagliano. Die vier Schweizer Riesen blieben in der Villa La Strada, schlugen auf dem Hof ihre Zelte auf und wachten über die Sicherheit der Bewohner. Sobald sich die Männer ausgeruht und frischgemacht hatten, wollte der Trupp weiterziehen, nicht ohne jedoch etwas von großem Wert zurückzulassen.
Die Damen würden bleiben, ließ Niccolo seine Frau wissen, die ausländischen Damen, die Mogor-Prinzessin mit ihrer Dienerin. Wie ein Todesurteil nahm Marietta diese Neuigkeit hin. Schönheit würde sie umbringen, auf dem Scheiterhaufen der endlosen Lüsternheit ihres Gatten würde sie verbrennen. Die schönsten und begehrenswertesten Frauen, die man je in Percussina gesehen hatte - die Teufelsköniginnen -, sie sollten unter ihrem Dach wohnen, und durch ihre Anwesenheit würde sie, Marietta, einfach aufhören zu existieren. Nur die beiden Damen würde es noch geben, und sie selbst wurde die unsichtbare Frau ihres Mannes. Das Essen stünde zu den Mahlzeiten auf dem Tisch, die Wäsche würde gewaschen und das Haus sauber gehalten werden, doch ihr Mann würde gar nicht bemerken, wer dafür verantwortlich war, würde er doch in den Augen dieser ausländischen Hexen ertrinken, deren überwältigende Begehrlichkeit sie, Marietta, schlichtweg aus dem Leben löschte. Die Kinder müssten umziehen, vielleicht ins Haus an den acht Kanälen unweit der Römischen Straße, und sie konnte ihr Leben dann aufteilen zwischen dem Haus und La Strada, aber das wäre unmöglich, das durfte nicht geschehen, sie wollte es nicht zulassen.
Sie holte Luft, um ihn auszuschimpfen, gleich hier in aller Öffentlichkeit, vor den Augen und Ohren des ganzen Dorfes, der Albino-Riesen und der Schreckensgestalt, die der von den Toten zurückgekehrte Argalia war, doch Il Machia hob eine Hand, und einen Moment lang schien er wieder einer jener Granden von Florenz zu sein, zu denen er bis vor kurzem noch gezählt hatte. Da sie aber sah, wie ernst es ihm war, blieb sie stumm. «Na gut», sagte sie dann. «Wir können den Damen nicht gerade einen Prinzessinnenpalast bieten, also sollten sie lieber keine Beschwerden vorbringen, das ist alles.» Nach elf Jahren Ehe mit diesem Schürzenjäger war es um Signora Mariettas Laune nicht gerade zum Besten bestellt, außerdem behauptete er seit kurzem auch noch schamlos, ihre gereizte Stimmung treibe ihn fort, zum Beispiel ins Boudoir der Metze Barbera. Diese kreischende Salutati, die nichts anderes plante, als Marietta Corsini zu überleben, um dann ihr Königreich an sich zu reißen, ihren Platz im elterlichen Schlafzimmer in der villa La Strada einzunehmen, in der La Corsini die Herrin und Mutter von Niccolos Kindern war. Folglich war Marietta fest entschlossen, mindestens einhundertelf Jahre alt zu werden, nur um noch zu erleben, wie ihre Rivalin beerdigt wurde, um dann nackt unter fast vollem Mond auf ihrem Armengrab zu tanzen. Die Vehemenz ihrer Träume erschreckte Marietta, doch hatte sie längst aufgehört, ihre Wahrheit zu leugnen. Sie war fähig, sich über den Tod einer anderen Frau zu freuen. Vielleicht war sie sogar fähig, für dessen frühzeitiges Eintreten zu sorgen. Das könnte Mord bedeuten, sinnierte sie, da sie nur wenig über Hexerei wusste und ihre Zaubersprüche meist versagten. Einmal hatte sie sich am ganzen Leib mit heiliger Salbe eingerieben, ehe sie mit ihrem Mann ins Bett ging, vielmehr, ehe sie ihn zu Sex mit ihr zwang, und wäre sie eine bessere Hexe gewesen, hätte sie ihn so auf immer an sich gebunden. Stattdessen machte er sich am nächsten Nachmittag wie gewöhnlich zu Barbera auf den Weg, und sie schickte seinem sich entfernenden Rücken Flüche hinterher, nannte ihren Mann einen gottlosen Hurenbock, der nicht einmal die Heiligkeit des gesalbten Öls respektierte.
Er hatte sie natürlich nicht gehört, doch die Kinder hörten ihre Worte, ihre Augen waren überall, ihre Ohren hörten alles, sie waren das wispernde Gewissen des Hauses. Marietta hätte sie für die heiligen Geister halten können, nur musste sie die Kleinen füttern, ihre Kleider ausbessern und ihnen kalte Kompressen auf die Stirn legen, wenn sie unter Fieber litten. Sie waren also durchaus real, doch Mariettas Wut, ihre Eifersucht war stärker, und so drängte sie die eigenen Kinder in den Hintergrund ihrer Gedanken. Die Kleinen waren Augen, Ohren, Münder und süßer Atem in der Nacht. Sie waren nebensächlich. Sie hatte allein ihren Mann im Blick, ihren Gatten, den Mann im Exil, der immer noch nicht verstand, was im Leben wirklich zählte, den selbst das strappado den wahren Wert der Liebe und der Einfachheit nicht lehren konnte, ja, nicht einmal die Verleumdung seines ganzen Lebens und Wirkens durch die Bürgerschaft, deren Dienst er sich verschrieben hatte, konnte ihn lehren, dass es besser war, Liebe und Treue jenen zukommen zu lassen, die einem nahestanden, als sie an die allgemeine Öffentlichkeit zu verschwenden. Er hatte eine gute Frau, sie war ihm ein liebendes Weib, und doch musste er einem billigen jungen Flittchen nachsteigen. Er war würdevoll und gebildet, ihm gehörte ein kleines, zum Leben ausreichendes Landgut, doch schrieb er weiterhin jeden Tag entwürdigende Briefe an den Hof der Medici, bettelte unterwürfig um eine öffentliche Anstellung. Es waren kriecherische Briefe, die diesem düsteren, skeptischen Genie nicht geziemten, seelenschmälernde Worte. Er verachtete, was er schätzen sollte: das bescheidene väterliche Erbteil, den Grund und Boden, die Häuser, diese Wälder und Felder sowie seine Frau, die züchtige Göttin seines Erdenwinkels.

Die einfachen Dinge. Die schlagende Drossel vor dem Morgengrauen, die schwer tragenden Weinreben, die Tiere, der Hof. Hier fand er Zeit, zu lesen und zu schreiben, konnte die Kraft seines Geistes mit der eines jeden Fürsten messen. Sein Verstand war das Beste an ihm, damit vermochte er alles Bedeutsame zu erfassen, doch schien er in seiner verzweifelten Enttäuschung, seiner schmerzlich empfundenen Verbannung nur an neue Herbergen für seinen Schwanz denken zu können. Zumindest daran, ihn in jener besonderen Herberge unterzubringen, in der von Barbera nämlich, dieser singenden Kokotte. Wurde sein neues Theaterstück tiber die Alraune in dieser oder jener Stadt aufgeführt, sorgte er dafür, dass Barbera in den Pausen singen durfte, damit sie dem Publikum die Wartezeit verkürzte. Es war ein Wunder, dass es nicht angewidert und mit zugehaltenen Ohren den Saal verließ. Ein Wunder war es auch, dass seine treue Frau ihm noch kein Gift in den Wein geschüttet hatte, so wie es ein Wunder war, dass Gott solch schamlose Dirnen wie Barbera gedeihen ließ, während gute Frauen darbten und alt wurden.
«Aber», sagte sich Marietta, «vielleicht haben diese jaulende Kuh und ich nun etwas gemeinsam. Vielleicht müssen wir jetzt über dieses neue Problem reden, über die Hexen, die zu uns gekommen sind, um unsere glückliche Florentiner Lebensart zu stören.»

Es zählte zu Niccolos Angewohnheiten, Abend für Abend mit den mächtigen Toten in ebendiesem Raum Zwiesprache zu halten, in dem er nun seinem Jugendfreund von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, um zu sehen, ob er die Feindseligkeit, die er in sich aufkommen spürte, zu bezwingen vermochte oder ob es ihr Schicksal war, für den Rest ihres Lebens Gegner zu bleiben. Lautlos bat er die Toten um Rat. Mit den meisten Helden und Bösewichten der Alten Welt, den Philosophen wie den Männern der Tat, stand er auf vertrautem Fuß. War er allein, umdrängten sie ihn, argumentierten, erklärten oder nahmen ihn auf einen ihrer unsterblichen Feldzüge mit. Wenn er Nabis vor sich sah, Anführer der Spartaner, wie er die Stadt gegen Rom und auch das übrige Griechenland verteidigte, wenn er den Aufstieg des Sizilianers Agathokles verfolgte, Sohn des Töpfers, der allein durch seine Verschlagenheit zum König von Syrakus wurde, oder wenn er mit Alexander von Mazedonien gegen Darius den Großen von Persien ritt, dann spürte er, wie sich die Vorhänge seines Geistes teilten und die Welt klarer wurde. Die Vergangenheit war ein Licht, das, entsprechend ausgerichtet, die Gegenwart heller erleuchtete als jede moderne Lampe. Wie die heilige olympische Flamme wurde Größe von Großem zu Großem weitergereicht. Alexander nahm sich Achilles zum Vorbild, Caesar folgte Alexanders Fußspuren - und so weiter. Verständnis war auch eine solche Flamme. Wissen entsprang nie einfach nur dem menschlichen Geist; stets wurde es wiedergeboren. Die Weitergabe der Weisheit von einem Zeitalter ans nächste, ein Zyklus der Wiedergeburt: Das war Weisheit. Alles andere war Barbarei.
Nur waren die Barbaren überall, und überall waren sie siegreich.
Die Schweizer, die Franzosen, die Spanier, die Deutschen, sie alle trampelten in diesem Zeitalter unaufhörlicher Kriege durch Italien. Die Franzosen marschierten auf italienischem Boden gegen den Papst, die Venezianer, die Spanier und die Deutschen. Dann, bloß einen Lidschlag später, waren es die Franzosen, der Papst, die Venezianer und die Florentiner gegen die Mailänder. Dann der Papst, Frankreich, Spanien und die Deutschen gegen Venedig. Dann der Papst, Venedig, Spanien und die Deutschen gegen Frankreich. Dann die Schweizer in der Lombardei. Italien war zu einem Kriegskarussell geworden; der Krieg spielte zum Tanz mit ständig wechselnden Partnern auf, oder er spielte «Reise nach Jerusalem». Und während all dieser vielen Kriege hatte es keine rein italienische Armee je vermocht, sich gegen die von jenseits der Grenzen anstürmenden Horden zu behaupten.
Dies war es letzten Endes auch, was ihn mit seinem heimgekehrten Freund versöhnte. Wenn die Barbaren aus Italien vertrieben werden sollten, brauchte es dazu vielleicht selbst einen Barbaren. Argalia, der lange unter Barbaren gelebt hatte und zu einem so wilden Barbarenkrieger geworden war, dass er wie die Verkörperung des Todes aussah, war vielleicht ebenjener Erlöser, den das Land jetzt benötigte. Sein Hemd war mit Tulpen bestickt. «Tod inmitten von Tulpen», flüsterten die großen Toten Il Machia billigend ins Ohr. «Vielleicht wird dieser florentinische Osmane die Glücksblume Eurer Stadt.» Zögerlich und erst nach langem Nachdenken hielt Il Machia ihm zum Willkommensgruß die Hand hin. «Wer weiß, solltest du Italien erlösen können», sagte er, «erweist sich deine lange Reise vielleicht doch noch als ein Akt der Vorsehung.»
Argalia wehrte sich gegen die religiösen Untertöne in Il Machias Hypothese. «Na gut», gab sein Freund bereitwillig nach, «du hast recht: Erlösen ist wohl der falsche Titel für dich. Nennen wir dich stattdessen einfach einen Hurensohn.»
Am Ende hatte Andrea Doria Argalia schließlich doch noch davon überzeugen können, dass der Traum sinnlos war, nach Hause zurückzukehren und die Füße hochzulegen. «Was glaubt Ihr denn, was Herzog Giuliano sagen wird», fragte ihn der ältere condottiere. «Willkommen daheim, Signor Bis-an-die-Zähne-bewaffneter-Piraten, Verräter, Christenmörder und ]anitscharj Ihr mit Euren einhunderteinen schlachterprobten Kämpfern und den vier Albino-Riesen. Ich glaube Euch aufs Wort, wenn Ihr mir sagt, dass Ihr in Frieden kommt. Denn all diese Herren an Eurer Seite werden von nun an vermutlich als Gärtner arbeiten, als Diener, Zimmerleute und Anstreicher, nicht wahr? Nur ein Säugling könnte solch ein Märchen glauben. Fünf Minuten nachdem Ihr derart kriegsbereit auftaucht, schickt er Euch seine gesamte Miliz auf den Hals. Also seid Ihr ein toter Mann, wenn Ihr nach Florenz geht, es sei denn … » Es sei denn was, musste Argalia ihn fragen. «Es sei denn, ich sage ihm, er soll Euch als seinen militärischen Oberbefehlshaber einstellen, denn den braucht er dringend. Eine große Wahl bleibt Euch allerdings nicht», sagte der ältere Freund. «Für Männer wie uns kommt der Ruhestand nämlich nicht in Frage.»
«Ich habe kein Vertrauen zum Herzog», sagte Argalia zu Il Machia. «Und was das angeht, traue ich auch Doria nicht recht über den Weg. Er war schon immer ein Schurke, und ich fürchte, sein Charakter ist im Laufe der Jahre nicht gerade besser geworden. Vielleicht hat er Giuliano die Nachricht zukommen lassen, er solle mich umbringen, sobald ich auch nur einen Fuß in die Stadt setze. Kaltblütig genug ist er allemal. Aber vielleicht war er auch in großmütiger Laune und hat mich um der alten Zeiten willen tatsächlich empfohlen. Jedenfalls will ich die Frauen nicht mit in die Stadt nehmen, bis ich weiß, wie die Dinge stehen.»
«Ich kann dir genau sagen, wie sie stehen», erwiderte Niccolo verbittert. «Der absolute Herrscher der Stadt ist ein Medici. Der Papst ist ein Medici. Und die Leute hier behaupten, dass Gott vermutlich auch ein Medici ist, der Teufel ist es jedenfalls ganz bestimmt. Allein wegen der Medici sitze ich hier fest, züchte mein Vieh für einen Hungerlohn, bestelle diesen Flecken Land und verkaufe Brennholz, um über die Runden zu kommen; und unser Freund Ago wurde ebenfalls kaltgestellt. Das also ist die Belohnung dafür, dass wir in der Stadt geblieben sind und ihr all die Jahre treu gedient haben. Jetzt tauchst du nach einem Leben voller Blasphemie und Verrat auf, und weil der Herzog in deinen kalten Augen sehen kann, was dort jeder sieht, dass du nämlich gut im Menschenmorden bist, wird er dir aller Voraussicht nach das Kommando über jene Miliz geben, die ich aufgebaut habe, über die Miliz, die erst möglich wurde, nachdem ich die geizigen Pfeffersäcke unserer reichen Stadt davon überzeugen konnte, dass es sich lohnt, für ein stehendes Heer zu zahlen, jene Miliz, die ich ausgebildet und die ich bei der großen Belagerung und Wiedereroberung der Stadt Pisa, unseres alten Besitztums, zum Sieg geführt habe, diese Miliz, meine Miliz, sie wird deine Belohnung für ein verkommenes, profitsüchtiges und zügelloses Leben sein, weshalb es mir, vielleicht verständlicherweise, schwer fällt, an das zu glauben, was die Bibel uns lehrt, dass nämlich die Tugend unweigerlich belohnt und die Sünde unweigerlich bestraft wird.»

«Kümmere dich um die beiden Frauen, bis ich nach ihnen schicke», sagte Argalia, «Und wenn ich Glück habe und ein Amt bekomme, werde ich sehen, was ich für dich und den kleinen Ago tun kann.»

«Na prima», sagte Il Machia, «jetzt tust du mir also einen Gefallen?»
Das Leben hatte Agostino Vespucci arg gebeutelt, und er war dieser Tage irgendwie anders, niedergeschlagener und nicht mehr so fröhlich wie sonst, allerdings auch nicht mehr so unflätig. Im Gegensatz zu Il Machia war er nicht der Stadt verwiesen worden, weshalb er weiterhin in dem Haus in Ognissanti wohnte oder im ÖL-, Wolle-, Wein- und Seidegeschäft arbeitete, sosehr er es auch verabscheute, doch trieb es ihn immer wieder hinaus nach Sant’ Andrea in Percussina, um allein im Alraunenwald zu liegen und den Vögeln und dem Rauschen der Blätter zu lauschen, bis es Zeit wurde, zu Niccolo in die Taverne zu gehen, zu trinken und Tricktrack zu spielen. Sein schimmerndes Goldhaar war vorzeitig weiß und schütter geworden, weshalb er älter aussah, als er war. Er hatte nicht geheiratet und frequentierte die Bordelle auch nicht mehr so oft und mit der gleichen Begeisterung wie früher. Der Verlust seines Amtes hatte ihn den Ehrgeiz gekostet, und die durch Alessandra Fiorentina erlittene Erniedrigung dämpfte sein Verlangen nach Sex. Er kleidete sich schäbig und wurde sogar geizig, gänzlich unnötigerweise, denn obwohl ihm kein Gehalt mehr gezahlt wurde, waren die Vespuccis noch reich genug. An dem Abend, ehe n Machia Florenz verließ, um nach Percussina zu ziehen, hatte Ago ein Essen gegeben, an dessen Ende er jedem Gast, auch Niccolo, eine Rechnung über vierzehn Soldi vorlegte. Il Machia hatte nicht genug Geld dabei und gab ihm nur elf, weshalb Ago seinen Freund immer wieder mit unziemlicher Häufigkeit daran erinnerte, dass er ihm noch drei Soldi schulde.
Il Machia machte seinem Freund die neue Knauserigkeit je-doch nicht zum Vorwurf, da er das Gefühl hatte, Ago leide noch schlimmer als er selbst darunter, dass die Stadt ihre jahrelange Arbeit nicht zu schätzen wusste; außerdem konnte der Verlust einer Geliebten allerlei seltsame Symptome in einem verschmähten Mann auslösen. Von den drei Freunden war Ago derjenige gewesen, der nie zu reisen brauchte, derjenige, dem die Stadt alles bot, wonach ihn verlangte. Wenn also Il Machia eine Stadt verloren hatte, dann war Ago an der Welt gescheitert. Manchmal sprach er sogar davon, Florenz auf immer den Rücken zu kehren, Amerigo nach Spanien zu folgen und über den Ozean zu segeln, doch sooft er von solchen Reisen auch redete, tat er es stets ohne Vorfreude. Es war, als beschreibe er den Übergang vom Leben zum Tod. Die Nachricht, dass Amerigo gestorben war, verstärkte seinen Trübsinn noch. Bereitwillig wie nie schien Ago nun über einen Tod unter fremdem Himmel nachzudenken. Andere alte Freunde hatten sich zerstritten, auch Biagio Buonaccorsi und Andrea di Romolo, die zudem mit Ago und Il Machia gebrochen hatten; nur Vespucci und Machiavelli standen sich noch nah, weshalb Ago eines Tages vor dem Morgengrauen zu Il Machia ritt, um mit ihm auf Vogeljagd zu gehen, und vor Schreck fast gestorben wäre, als vier riesige Kerle aus dem Morgennebel auftauchten und nach seinem Begehr fragten. Doch kaum war Il Machia, in einen langen Mantel gehüllt, aus dem Haus getreten und hatte die Identität seines Freundes bestätigt, zeigten sich die Riesen von ihrer leutseligen Seite. Wie Argalia sehr wohl wusste, waren die vier Schweizer Janitscharen nämlich wahrhafte Klatschmäuler, mit Zungen so flink wie die von Fischweibern am Markttag, und während sie auf Il Machia warteten, der wieder ins Haus gegangen war, um Ulmenzweige in kleinen Käfigen mit Vogelleim zu bestreichen, versorgten Otho, Botho, Clotho und D’ Artagnan seinen Freund derart lebhaft mit Informationen, dass er spürte, wie sich nach langer, geschlechtsloser Zeit zum ersten Mal wieder sexuelles Verlangen in ihm regte. Offenbar waren diese Frauen wirklich einen Blick wert. Endlich kam Niccolo; mit seinen leeren, auf den Rücken geschnallten Käfigen sah er fast wie ein bankrotter Hausierer aus, als die beiden Freunde sich auf den Weg in den Wald machten. Der Nebel hob sich. «Wenn der Zug der Drosseln erst vorüber ist», sagte Il Machia, «können wir beide uns nicht einmal mehr auf die Vogeljagd freuen.» Dann aber schimmerte ein Licht in seinen Augen, das darin schon eine ganze Weile nicht mehr zu sehen gewesen war, und Ago erwiderte: «Sie sind also wirklich so toll, wie?» Sogar Il Machias Grinsen war wieder da. «Weißt du, was seltsam ist?», sagte er. «Selbst meine Frau hat aufgehört, ständig an mir herumzunörgeln.»
In dem Augenblick, in dem Prinzessin Qara Köz und ihr Spiegel das Haus der Machiavelli betraten, fing Marietta Corsini an, sich töricht vorzukommen. Ein köstlicher, bittersüßer Duft zog vor den beiden ausländischen Frauen her durch das Haus und verbreitete sich rasch über alle Flure, wehte die Treppe hinauf, drang in jeden Winkel, und als Marietta diesen schweren Duft einatmete, fand sie plötzlich, dass ihr Leben eigentlich gar nicht so beschwerlich war, wie sie irrigerweise bislang geglaubt hatte, da ihr Mann sie doch liebte, ihre Kinder gute Kinder und die Besucherinnen gewiss die vornehmsten Gäste waren, die zu empfangen sie je die Ehre gehabt hatte. Argalia, der darum gebeten hatte, vor dem Ritt in die Stadt eine Nacht im Haus ruhen zu dürfen, sollte in 11 Machias Arbeitsstube auf dem Sofa schlafen; Marietta zeigte der Prinzessin das Gästezimmer und fragte ein wenig verlegen, ob ihre Dienerin die Nacht in eine der Kinderkammern zu verbringen wünsche. Qara Köz legte ihrer Wirtin einen Finger auf die Lippen und murmelte ihr ins Ohr: «Dieses Zimmer reicht für uns beide.» In eigenartig glückseliger Verfassung ging Marietta darauf zu Bett, und als ihr Mann sich zu ihr legte, erzählte sie ihm vom Entschluss der beiden Damen, gemeinsam in einem Bett zu schlafen, und klang dabei gar nicht mal sonderlich schockiert. «Denk nicht weiter an diese Frauen», sagte ihr Mann, und Mariettas Herz hüpfte vor Freude. «Die Frau, die ich will, ist gleich hier an meiner Seite.» Das ganze Zimmer war erfüllt vom bittersüßen Duft der Prinzessin.
Kaum aber waren die beiden Frauen in ihrem Zimmer und hatten die Tür geschlossen, spürte Qara Köz, wie sie völlig unerwartet in einer Flut existentieller Angst zu ertrinken drohte. Von Zeit zu Zeit überfiel sie eine solche Traurigkeit, doch hatte sie nie gelernt, sich dagegen zu wappnen. Ihr Leben war eine Abfolge freier Willensentscheidungen gewesen, manchmal aber geriet sie ins Wanken und fürchtete zu versinken. Sie hatte ihr Leben darauf gebaut, dass sie von Männern geliebt wurde, darauf, dass es ihr stets gelang, diese Liebe zu wecken, wann immer sie es wollte, doch wenn sich ihr die allerdunkelsten Fragen stellten, wenn sie ihre Seele schaudern spürte, wenn sie unter dem Gewicht ihrer Isolation und ihres Verlustes zu zerbrechen meinte, dann konnte ihr die Liebe keines Mannes helfen. Und so begriff sie, dass das Schicksal sie unvermeidlich vor die Wahl zwischen ihrer Liebe und ihrem Leben stellen würde, und wenn eine solche Krise anbrach, durfte sie keinesfalls die Liebe wählen. Tat sie das, brachte sie sich in tödliche Gefahr. Das Überleben aber stand an erster Stelle.
Dies war die unvermeidliche Folge jenes Schrittes, mit dem sie damals ihre natürliche Umgebung verlassen hatte. An dem Tag, an dem sie sich weigerte, mit ihrer Schwester Khanzada an den Hof der Moguln zurückzukehren, hatte sie nicht nur gelernt, dass eine Frau ihren eigenen Weg zu wählen vermag, sondern auch, dass eine solche Wahl Folgen nach sich zieht, die nie wieder aus dem Buch des Lebens zu tilgen sind. Sie hatte ihre Wahl getroffen, und was daraus folgte, das folgte eben daraus; sie empfand keinerlei Bedauern, nur litt sie hin und wieder unter schrecklichen Angstattacken. Diese Angst schüttelte und beutelte sie wie der Sturm einen Baum, doch Spiegel nahm sie in die Arme, bis das Unwetter vorüber war. Sie sank aufs Bett, und Spiegel lag an ihrer Seite und hielt sie, umklammerte Qara Köz’ Bizeps, hielt sie nicht wie eine Frau eine Frau, sondern wie ein Mann. Qara Köz hatte gelernt, dass es ihre Macht über Männer war, die es ihr erlaubte, die Reise ihres Lebens selbst zu bestimmen, nur wusste sie auch, dass sie diesen Akt der Selbstbestimmung mit einem großen Verlust bezahlte. Die Kunst der Verzauberung hatte sie zur Vollendung gebracht, sie hatte die Sprachen der Welt gelernt, war Zeugin der größten Ereignisse ihrer Zeit geworden, aber sie war ohne Familie, ohne Verwandtschaft, ohne jenen Trost, der ihr geblieben wäre, hätte sie gegebene Grenzen nicht überschritten, um in der Obhut des Bruders zu bleiben, dort, wo man ihre Sprache sprach. Es war, als schwebte sie hoch über dem Boden, schwebte durch reine Willenskraft, müsste zugleich aber fürchten, der Zauber könne jederzeit gebrochen werden, und sie würde zurück zur Erde stürzen.
Die wenigen Neuigkeiten, die sie über ihre Familie erfuhr, verwahrte sie in ihrem Herzen und mühte sich, mehr Bedeutung aus ihnen herauszupressen, als sie enthielten. Schah Ismail war der Freund ihres Bruders Babar gewesen, und die Osmanen besaßen eigene Wege, auf denen sie erfuhren, was in der Welt geschah. Daher wusste sie, dass ihr Bruder lebte, dass ihre Schwester zu ihm gefunden hatte und dass ein Kind - Nasiruddin Humayun geboren worden war. Doch ansonsten schien nichts gewiss. Ferghana, das Königreich ihrer Vorfahren, galt als verloren und würde vielleicht nie zurückgewonnen werden. Babar hatte sein Herz an Samarkand gehängt, aber obwohl Shaibani Khan, Lord Wurmholz, besiegt und tot war, schienen die Truppen der Moguln jene fabelhafte Stadt nie für längere Zeit halten zu können. Also war auch Babar heimatlos, Khanzada war heimatlos, und nirgendwo auf Gottes weiter Welt besaß die Familie eine dauerhafte Bleibe. Vielleicht war es das, was es hieß, Mogul zu sein, herumzuziehen, zu plündern, erfolglos zu kämpfen, auf andere angewiesen und verloren zu sein. Einen Moment lang packte sie die Mutlosigkeit, doch gleich darauf schüttelte sie dies Gefühl auch schon wieder ab. Moguln waren keine Opfer der Geschichte, sondern ihre Macher. Ihr Bruder, dessen Sohn und der Sohn, der nach ihm kam:
Welch Königreich würden sie dereinst zum Ruhm der ganzen Welt errichten! Sie wünschte es sich, sah es voraus, ließ das Reich allein durch ihr Drängen Wirklichkeit werden. Und sie würde es genauso halten, würde gegen unglaubliche Widerstände in dieser fremden Welt ihr eigenes Königreich errichten, denn auch sie war zum Herrschen geboren. Sie war eine Mogulin und daher ebenso furchterregend wie nur irgendein Mann. Ihr Wille war der Aufgabe gewachsen. Leise, nur so vor sich hin, sagte sie auf Tschagatai die Verse Ali-Shir Nava’is. Tschagatai war ihre Muttersprache, ihr Geheimnis, ihre Verbindung zu dem wahren, im Stich gelassenen Ich, ersetzt durch ein selbstgeschaffenes Ich, das aber natürlich Teil des neuen Ichs sein würde, das Grundgestein, sein Schwert und Schild. Nava’i, der «Klagende», der einstmals in einem fernen Land für sie gesungen hatte: Qara ko’mm, kelu mardumlug’ emdi fan qilg’il. Kommt, Qara Köz, und erweist mir Eure Liebenswürdigkeit. Eines Tages würde ihr Bruder über ein Weltreich herrschen, und sie kehrte im Triumph als eine Königin heim. Oder die Kinder ihres Bruders begrüßten ihre eigenen Kinder. Blutsbande ließen sich nicht durchtrennen. Sie hatte sich neu geschaffen, doch was sie gewesen war, würde sie bleiben, und sie und ihre Kinder würden auch in Zukunft Anspruch auf ihr Erbe stellen können. Die Tür öffnete sich. Der Mann kam herein, ihr Tulpenprinz.
Er hatte gewartet, bis nächtliche Ruhe ins Haus einkehrte, und jetzt kam er zu ihr, zu ihnen. Die Dunkelheit wich nicht von ihr, rutschte aber beiseite und machte im Bett Platz für ihren Geliebten. Spiegel, die spürte, wie sie sich entspannte, gab sie frei und kümmerte sich um Argalias Kleider. Morgen würde er in die Stadt reiten, und bald, sagte er, bald würde alles arrangiert sein. Sie ließ sich nicht täuschen. Sie wusste, morgen würde es entweder gut oder, wenn nicht gut, sehr schlecht ausgehen. Morgen Abend könnte er schon tot sein, und dann würde sie als Überlebende ein weiteres Mal wählen müssen. Doch heute Nacht war er am Leben. Mit Liebkosungen und Ölen bereitete Spiegel ihn für sie vor. Bei Mondlicht sah sie, wie sein fahler Körper unter den Berührungen ihrer Dienerin erblühte. Fast glich er mit seinem langen Haar selbst einer Frau, die Hände so lang, die Finger so schlank, die Haut so unglaublich weich. Sie schloss die Augen und hätte nicht sagen können, wer von den beiden sie berührte, seine Hände so sanft wie die ihres Spiegels, das Haar beinahe gleich lang, die Zunge ebenso erfahren. Er wusste wie eine Frau zu lieben. Und Spiegel konnte mit ihren brutalen Fingern hart zustechen wie ein Mann. So sehnig, so geduldig, seine Berührungen so leicht, das war es, weshalb sie ihn liebte. Die Schatten waren jetzt in eine Ecke gedrängt, und der Mond schien herab auf drei sich windende Leiber. Sie liebte ihn, und sie diente ihm. Sie liebte Spiegel, diente ihr aber nicht. Spiegel liebte sie und diente ihnen beiden. Heute Abend kam es nur auf die Liebe an. Morgen war vielleicht etwas anderes wichtiger, aber morgen war morgen. «Meine Angelica», sagte er. «Hier ist Angelica, Angelica ist hier», erwiderten die beiden Frauen. Dann leises Lachen, Stöhnen, ein überlauter Schrei und kurzes Glucksen.
Sie erwachte vor dem Morgengrauen. Er lag in tiefem Schlaf, im schweren Schlaf eines Mannes, dem viel abverlangt wird, sobald er erwacht, und sie sah zu, wie er atmete. Spiegel schlief ebenfalls noch. Qara Köz lächelte. Meine Angelica, flüsterte sie auf Italienisch. Die Liebe zwischen den beiden Frauen war von größerer Dauer als diese Sache zwischen Mann und Frau. Sie streichelte über die Haare der beiden, so lang, so schwarz. Dann drang von draußen Lärm herein. Ein Besucher. Die Schweizer Riesen stellten sich ihm in den Weg. Sie hörte den Herrn des Hauses vortreten und die Lage erklären. Sie konnte ihn vor sich sehen, diesen Niccolo, diesen großen Mann in der Stunde seiner Niederlage. Vielleicht würde er dereinst wieder aufsteigen, wieder ein bedeutsamer Mann werden, doch im Haus der Niederlage hatte sie nichts verloren. Die Größe des bezwungenen Mannes war auf Anhieb zu erkennen, Größe des Intellekts und vielleicht auch der Seele, doch hatte er seinen Kampf verloren, folglich war er nichts für sie, konnte er nichts für sie sein. Sie baute jetzt vollständig auf Argalia, zählte auf seinen Erfolg, und wenn er erfolgreich war, würde sie mit ihm aufsteigen, sich mit ihm emporschwingen. Wenn sie ihn aber verlor, würde sie herzzerreißend um ihn trauern, würde untröstlich sein und dann tun, was getan werden musste. Sie würde ihren Weg gehen. Was immer heute auch geschehen mochte, sie würde bald genug ihre Reise zum Palast antreten, denn sie war eine Frau für Paläste - und für Könige.
Die Vögel hüpften in die Käfige und blieben an den mit Leim überzogenen Ulmenzweigen kleben. Ago und n Machia griffen sie sich und brachen ihnen die kleinen Hälse. Später würden sie einen köstlichen Singvogeleintopf essen. Das Leben konnte ihnen doch noch einiges Vergnügen bieten, zumindest bis zum Ende des Drosselzugs. Mit zwei Säcken voller Vögel kehrten sie ins La Strada zurück zu einer glücklichen Marietta, die sie mit zwei Glas guten Rotweins erwartete. Argalia war mit seinen Männern bereits fortgeritten, hatte aber den Serben Konstantin und ein Dutzend seiner Janitscharen für den Fall zurückgelassen, dass die Damen verteidigt werden mussten; folglich würde es also noch eine Weile dauern, bis Ago den Wanderer wiedersehen würde. Kurz spürte er einen Stich des Bedauerns. Niccolo hatte die Verwandlung ihres alten Freundes in eine fast weibische, doch höchst grimmige, orientalische Verkörperung des Todes beschrieben - «Argalia, der Türke», wie ihn die Dorfbewohner bereits nannten, gerade so, wie er es vor langer Zeit an jenem Tag prophezeit hatte, an dem er als junger Mann aufgebrochen war, sein Glück zu suchen -, und Ago hatte sich auf diesen exotischen Anblick gefreut. Dass Argalia tatsächlich mit den vier Schweizer Riesen aus seinem Traum heimgekehrt war, fand er schließlich schon unglaublich genug.
Dann hörte Ago Vespucci Schritte auf der Treppe; er blickte auf, und es war, als existierte Argalia nicht länger. Er hatte sich selbst sagen hören, dass es bis zu diesem Augenblick nie wahrhaft schöne Frauen auf der Welt gegeben habe, dass Simonetta Vespucci und Alessandra Fiorentina nur blasse Mauerblümchen seien, doch die Frauen, die ihm entgegenkamen, waren schöner als die Schönheit selbst, sie waren so schön, dass sie die Bedeutung des Wortes neu definierten und das, was Männer bislang für schön gehalten hatten, auf den Platz fadester Gewöhnlichkeit verwiesen. Ein Duft wehte vor ihnen her die Treppe herab und umhüllte sein Herz. Die erste Frau war einen Hauch lieblicher als die zweite, wenn man aber ein Auge schloss und die erste Gestalt ausblendete, war die zweite die größte Schönheit auf Erden. Warum nur sollte man das tun? Warum das Außergewöhnliche fortblenden, bloß damit das Herausragende besser zur Geltung kam?
«Verdammt, Machia», flüsterte er leicht schwitzend. Der Überdruck seiner Gefühle presste diesen ersten Fluch nach einer langen Zeit über die Lippen, in der er dem Fluchen völlig abgeschworen hatte; der Sack mit den toten Drosseln fiel ihm aus der Hand. «Ich glaube, ich habe gerade den Sinn des Lebens wieder entdeckt.»

17. Der Herzog hatte seinen Palast verschlossen…

Der Herzog hatte seinen Palast verschlossen, weil er eine Invasion der zügellosen Menge fürchtete, denn die Stadt war in jenen Tagen nach der Wahl des ersten Medici zum Papst einem Taumel anheimgefallen, der einer Gewaltorgie glich. «Wie die Narren führten sich die Menschen auf», sollte Argalia später Il Machia erzählen, «ohne jeden Respekt vor Alter oder Geschlecht.» Unaufhörlich und ohrenbetäubend ertönte der Lärm der Gloria schlagenden Kirchenglocken, und die Freudenfeuer drohten, ganze Stadtviertel zu vernichten. «Im Mercato Nuovo», berichtete Argalia, «rissen junge Halbstarke Bretter und Planken von Seidengeschäften und Banken. Und als die Behörden endlich einschritten, hatte man selbst das Dach des Hauses der Tuchzunft, der alten Calimala, abgerissen und verbrannt. Sogar oben auf dem Campanile von Santa Maria deI Fiore soll ein Freudenfeuer geleuchtet haben. Dieser Unsinn währte drei Tage.» Lärm und Rauch erfüllten die Straßen. In jeder Gasse wurde auf natürliche wie widernatürliche Weise Unzucht getrieben, doch nahm niemand daran Anstoß. Abend für Abend zogen Ochsen einen mit Girlanden geschmückten Siegeskarren von den Gärten der Medici an der Piazza San Marco zum Palazzo Medici in der Via Larga. Vor dem verrammelten Palast sang die Bürgerschaft Lieder zum Lobe von Papst Leo X. und setzte dann den Karren mitsamt Blumen in Brand. Aus den oberen Fenstern des Medici-Palastes warfen die neuen Herrscher Gaben unters Volk, an die zehntausend Golddukaten sowie zwölf große Silbertuchservietten, die von den Florentinern in Stücke gerissen wurden. In den Straßen der Stadt gab es für jedermann volle Weinfässer und Brotkörbe. Gefangene wurden begnadigt, Huren wurden reich, und männliche Nachkommen wurden nach Herzog Giuliano und seinem Neffen Lorenzo oder nach Giovanni benannt, der zu Leo geworden war; weibliche Kinder taufte man nach den hohen Frauen der Familie auf die Namen Laodamia oder Semiramide.
Zu diesem Zeitpunkt war es unmöglich, die Stadt mit hundert Bewaffneten zu betreten, um eine Audienz bei Herzog Giuliano wahrzunehmen, denn in den Straßen wurde immer noch gefeiert, Brandstifter trieben ihr Unwesen. Argalia zeigte den Wachen am Stadttor seine Papiere und vernahm mit Erleichterung, dass seine Ankunft erwartet worden sei. «Ja, der Herzog wird Euch empfangen», sagten sie, «aber bitte, habt Verständnis dafür, dass es nicht gleich sofort sein kann.» Bis zum vierten Tag, an dem das Fest der Florentiner für den Papst langsam an Schwung verlor, kampierten daher die Janitscharen vor den Stadtmauern. Doch selbst dann durfte Argalia die Stadt noch nicht betreten. «Rechnet heute Abend», sagte der Anführer der Wache, «nach Einbruch der Dunkelheit mit hochstehendem Besuch.»
Argalia wusste wie eine Frau zu lieben und wie ein Mann zu morden, doch war er nie zuvor einem Herzog der Medici in all seinem Pomp gegenübergetreten. Als aber Giuliano de’ Medici an jenem Abend mit einer Kapuze über dem Kopf in sein Lager ritt, wurde Argalia auf Anhieb klar, dass der neue Herrscher von Florenz ein Schwächling war, übrigens ebenso wie der junge Neffe, der an seiner Seite ritt. Papst Leo war bekannt als ein Mann der Macht, als ein Medici der alten Schule, Erbe der Autorität von Lorenzo dem Prächtigen, seinem Vater. Wie musste es ihn bekümmern, dass er Florenz der Obhut dieser zweitklassigen Knallchargen anvertraut hatte! Kein wahrer Medici-Herzog wäre wie ein Dieb aus der eigenen Stadt geschlichen, bloß um jemanden zu treffen, den man vielleicht in die eigenen Dienste aufnehmen wollte. Dass Herzog Giuliano sich trotzdem dafür entschieden hatte, bewies, wie sehr er einen starken Mann an seiner Seite brauchte, jemanden, der ihm Selbstvertrauen schenkte. Einen Mann des Militärs. Einen Tulpengeneral für die Verteidigung der Blumenstadt. Höchste Zeit, dass die Stelle besetzt wurde.
Bei flackerndem gelbem Lampenlicht nahm Argalia in seinem Zelt die Edelleute genauer in Augenschein. Herzog Giuliano, diese blasse Brut von Lorenzo de’ Medici, war Mitte dreißig, hatte ein langes, trauriges Gesicht und wirkte ein wenig kränklich. Er würde wohl kaum ein hohes Alter erreichen. Zweifellos war er ein Liebhaber von Literatur und Kunst, zweifellos ein Mann von Geist und Kultur, also eine Belastung im Kampf. Es wäre besser, er bliebe daheim und überließe das Kämpfen jenen, die es konnten, jenen, für die das Kämpfen Kultur und Töten eine Kunst war. Der Neffe, ebenfalls ein Lorenzo, zog ein grimmiges Gesicht und war ein Mann von dunkler Haut und großspurigem Gehabe, einer von diesen vielen tausend zwanzigjährigen Großmäulern in Florenz, sagte sich Argalia. Ein junger Bursche, voll im Saft stehend und von sich selbst überzeugt. Kein Mann, auf den man sich im Handgemenge verlassen durfte.
Argalia hatte alle Argumente parat. Am Ende seiner langen Reisen, sagte er, habe er Folgendes eingesehen: dass Florenz überall und überall Florenz sei. Überall auf der Welt gebe es omnipotente Fürsten, Medici, die führten, weil sie schon immer Führer gewesen waren, und die einfach bestimmten, was als Wahrheit zu gelten hatte. Überall gebe es auch Jammerer (Argalia hatte die Zeit der Jammerer in Florenz verpasst, doch hatten sich die Neuigkeiten über den Mönch Savonarola und dessen Anhänger rasch verbreitet,, Jammerer, die führen wollten, weil sie glaubten, eine höhere Macht habe ihnen verraten, was tatsächlich die Wahrheit sei. Und überall gebe es Menschen, die zu führen meinten, obwohl sie es nicht taten, und diese letzte Gruppe war so nicht übersehen ließ. Allerdings - und da saß der Haken in Argalias Argumentation - waren die Spanier mittlerweile bei allen Italienern derart verhasst, dass es für die Medici äußerst unklug gewesen wäre, noch einmal ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Also brauchte die Stadt einen Trupp kriegserprobter Männer, der in der florentinischen Miliz die Führung übernahm und ihr zu Rückgrat und Ordnung verhalf, woran es so offensichtlich gemangelt hatte, zu Kampfesgeist, den Niccolo, der von Natur aus Bürokrat und kein Mann des Krieges war, ihnen so gar nicht hatte vermitteln können.

Indem er sich so sorgsam von seinem in Ungnade gefallenen alten Freund distanzierte, erstritt sich Argalia, der Türke, die Stelle eines condottiere von Florenz. Er war angenehm überrascht, als er hörte, dass er auf Dauer bestallt wurde statt nur für einen begrenzten Zeitraum von wenigen Monaten. Manche seiner Kriegskameraden wurden in jener Zeit, in der es mit den condottieri bereits zu Ende ging, für gerade mal drei Monate angeheuert, und die Bezahlung war an ihren militärischen Erfolg geknüpft. Argalia dagegen erhielt nach damaligen Maßstäben ein ganz ordentliches Gehalt, und darüber hinaus schenkte Herzog Giuliano seinem Oberbefehlshaber eine prächtige Residenz an der Via Porta Rossa samt Personal und großzügig bemessenem Wirtschafts-geld. «Admiral Doria muss mich ja wirklich in den höchsten Tönen gelobt haben», sagte Argalia zu Herzog Giuliano, als er diese vorteilhaften Bedingungen annahm.

«Er sagte, Ihr wäret das einzige barbarische Arschloch, dem er weder an Land noch auf See begegnen möchte, auch wenn Ihr nackt wie ein unbeschnittener Säugling wärt und nur ein Küchenmesser in der Hand hieltet», erwiderte der Herzog charmant.

Legenden zufolge besaß die Familie Medici einen Zauberspiegel, der dem jeweils herrschenden Herzog das Bild der begehrenswertesten Frau der bekannten Welt zeigte, und in ebendiesem Spiegel hatte der am Tag der pazzi-Verschwörung ermordete Giuliano de’ Medici, der Onkel des jetzigen Herrschers, zum ersten Mal das Gesicht von Simonetta Vespucci gesehen. Nach ihrem Tod jedoch war der Spiegel erblindet, als weigerte er sich, die Erinnerung an Simonetta mit dem Bild einer geringeren Schönheit zu beflecken. In jenen Zeiten, in denen die Familie außerhalb der Stadt Florenz im Exil weilte, blieb der Spiegel noch eine Weile an seinem Platz in dem Raum hängen, der im alten Haus an der Via Larga einmal Onkel Giulianos Schlafgemach gewesen war, doch da sich das Glas standhaft weigerte, weder als ein Werkzeug der Offenbarung noch als gewöhnlicher Spiegel zu funktionieren, wurde es schließlich abgehängt und in einen kleinen Putzschrank gestellt, kaum mehr als eine hinter der Schlafzimmerwand verborgene Besenkammer. Nach der Wahl von Papst Leo aber begann der Spiegel plötzlich wieder zu glühen, und es hieß, eine Dienstmagd sei vor Schreck ohnmächtig geworden, als sie die Kammertür öffnete und ihr das Gesicht einer Frau aus spinnenwebverhangener Ecke entgegenblickte, einer Fremden, die wie eine Besucherin aus einer anderen Welt aussah. «In ganz Florenz gibt es kein solches Gesicht», sagte der neue Herzog Giuliano, sobald ihm das Wunder gezeigt wurde, doch schien sich mit dem Blick in den Zauberspiegel ebenso seine Gesundheit wie auch seine Haltung deutlich zu verbessern. «Hängt den Spiegel wieder an die Wand, und ein Golddukaten soll dem gezahlt werden, der die Trägerin dieses lieblichen Antlitzes zu mir bringen kann.»
Der Maler Andrea del Sarto wurde geholt, um einen Blick in den Zauberspiegel zu werfen und das Bildnis der darin sichtbaren Schönen zu malen, doch ließ sich der Spiegel nicht so leicht übertölpeln, denn jeder Zauberspiegel, der zuließe, dass man seine magischen Bilder reproduzierte, wäre nur allzu bald außer Diensten, weshalb del Sarto, als er ins Glas schaute, niemanden erblickte als sich selbst. «Egal,,, sagte Giuliano enttäuscht. «Sie kann Euch Modell stehen, sobald ich sie finde.,, Kaum war deI Sarto fort, fragte sich der Herzog, ob das Problem nicht vielleicht darin bestehe, dass der Spiegel keine allzu hohe Meinung vom Genie des Künstlers hegte, doch schien del Sarto der Beste, der zur Verfügung stand, denn Sanzio war in Rom, um sich mit Buonarroti im Vatikan zu streiten, und der alte Filipepi, dem es die verstorbene Simonetta so angetan hatte, dass er zu ihren Füßen begraben werden wollte - was man natürlich nicht zulassen konnte -, war mittlerweile selbst tot, und lange, ehe er starb, war er arm und nutzlos geworden, da er ohne die Hilfe von zwei Krückstöcken nicht mehr aufrecht hatte stehen können. Filipepis Schüler Filippino Lippi war bei den festaiuoli beliebt, den Organisatoren des Straßenkarnevals und aller festlichen Paraden, ein Liebling der Massen, für jene Aufgabe aber völlig ungeeignet, die Herzog Giuliano vorschwebte. Also blieb nur deI Sarto, doch war es letztlich müßig, darüber zu spekulieren, denn von nun an zeigte der Zauberspiegel sein Bild nur noch, wenn sich Giuliano allein im Zimmer aufhielt. Während der nächsten Tage fand er daher immer häufiger einen Vorwand, sich mehrmals am Tag in sein Schlafgemach zurückzuziehen, um die überirdische Schönheit zu betrachten, und seine Höflinge, die sich längst um seine angeschlagene Gesundheit und seine neurasthenischen Launen sorgten, begannen, da sie eine Verschlechterung seines Zustandes fürchteten, sich mit wachsendem Grausen und zunehmender Unterwürfigkeit Lorenzo anzudienen, dem mutmaßlichen Nachfolger. Dann aber ritt eines Tages dieses bezaubernde Geschöpf an der Seite von Argalia, dem Türken, in die Stadt, und die Zeit der ammaliatrice begann.

Sie war gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt, fast ein Vierteljahrhundert jünger als Il Machia, doch als sie ihn fragte, ob er mit ihr in seinem Wald spazieren gehen wolle, sprang er mit der Gelenkigkeit eines bis über beide Ohren vernarrten Jünglings von seinem Platz auf. Ago Vespucci erhob sich ebenfalls, wie Niccolo irritiert bemerkte; was denn, war dieser indolente Kerl immer noch da? Und rechnete er etwa damit, sie auf dem Ausflug begleiten zu dürfen? Lästig, überaus lästig, doch unter den gegebenen Umständen wohl unvermeidlich. Dann folgte der erste Hinweis darauf, dass die Prinzessin über außergewöhnliche Gaben verfügte. Niccolos Frau Marietta, sonst die Eifersucht in Person, unterstützte den Vorschlag bereitwillig und in einem Ton, der ihren Mann in Erstaunen versetzte. «Ja, natürlich musst du ihr die Gegend zeigen», flötete sie, stellte rasch einen Picknickkorb zusammen und legte noch eine Flasche Wein dazu, auf dass ihnen der Ausflug desto besser gefalle. Der erstaunte Il Machia war auf der Stelle davon überzeugt, dass seine Frau im Banne eines Zaubers gefangen sein musste, und merkte, wie ihm die Worte «ausländische Hexen» in den Sinn kamen, doch dann erinnerte er sich an das Sprichwort vom geschenkten Gaul, verdrängte alle weiteren Überlegungen und erfreute sich seines Glücks. Mit Ago im Schlepptau machte er sich in der nächsten halben Stunde auf den Weg, vom Serben Konstantin und einer Abteilung Wachen in diskretem Abstand gefolgt, um die junge Prinzessin und ihre Dienerin in den Eichenwald seiner Kindheit zu begleiten. «Hier», erzählte Ago, und Il Machia sah ihm an, dass er sie auf seine er-bärmliche Weise zu beeindrucken suchte, «habe ich einmal eine Alraune gefunden, diese magische, sagenumwobene Wurzel, jawohl, die habe ich gefunden. Da drüben irgendwo!» Schwungvoll blickte er sich um, wusste aber nicht, in welche Richtung er zeigen sollte. «Ach nein, eine Alraune?», erwiderte Qara Köz in ihrem makellosen florentinischen Italienisch. «Seht doch, dort drüben scheint mir ein ganzes Beet dieser lieblichen kleinen Dinger zu sein.»
Und ehe man sie aufhalten konnte, ehe man ihnen warnend zurufen konnte, dass sie sich die Ohren mit Erde zustopfen mussten, bevor sie derlei versuchen konnten, eilten die beiden Damen zu dem Gewirr dieser unmöglichen Pflanzen und zogen sie mitsamt den Wurzeln heraus. «Ihr Geschrei», kreischte Ago aufgeregt mit nutzlos flatternden Händen. «Hört auf! Hört auf! Davon wird man verrückt! Oder taub! Oder wir müssen alle … » «Sterben» hatte er sagen wollen, doch schauten die beiden Frauen ihn nur verwirrt an, eine entwurzelte Alraune in jeder Hand, und kein tödliches Geschrei war zu hören. «In Übermaßen genossen, sind sie natürlich giftig», sagte Qara Köz nachdenklich, «doch braucht man deshalb keine Angst zu haben.»
Als die beiden Männer begriffen, dass sie in Gegenwart von Frauen waren, für die Alraunen klaglos ihr Leben gaben, staunten sie nicht schlecht. «Tja, nur probiert sie bitte nicht an mir aus», stammelte Ago in dem Versuch, die gerade gezeigte Furcht vergessen zu machen, «sonst werde ich Euch auf immer lieben oder doch so lange, bis einer von uns beiden stirbt.» Mit diesen Worten stieg eine tiefe Röte in ihm auf, zog sich bis hinab unter den Hemdkragen und tauchte selbst jenseits der Manschetten wieder auf, weshalb sich sogar die Farbe seiner Hände änderte, was natürlich nur bewies, dass er längst hoffnungslos und auf immer den beiden Damen ergeben war. Es brauchte keine magische Pflanzenkraft mehr, um seine Liebe zu entfachen.

Als Argalia schließlich mit seinen Schweizer Riesen zurückkehrte, um Qara Köz in ihr neues Heim, den Palazzo Cocchi del Nero, zu geleiten, hatte sie bereits das gesamte Dorf Sant’ Andrea in Percussina bis auf den letzten Mann, die letzte Frau, das letzte Kind in ihren Bann gezogen. Selbst die Hühner schienen glücklicher zu sein als zuvor, jedenfalls legten sie mehr Eier. Dabei hatte die Prinzessin eigentlich nichts getan, um die Bewunderung in solchem Maße wachsen zu lassen, doch sie wuchs. Während der sechs Tage ihres Aufenthalts im Haus der Machiavelli ging sie mit Spiegel im Wald spazieren, las Lyrik in diversen Sprachen, lernte die Kinder der Familie kennen, freundete sich mit ihnen an und war sich auch nicht zu fein, ihre Hilfe in der Küche anzubieten, ein Angebot, das Marietta allerdings ausschlug. Am Abend gefiel es ihr, mit n Machia in der Bibliothek zu sitzen und sich von Niccolo einzelne Abschnitte aus den Werken von Pico della Mirandola und Dante Alighieri vorlesen zu lassen, auch manch einen Canto des epischen Gedichtes Orlando innamorato von Matteo Boiardo aus Scandiano. «Ach!», rief sie, als sie von den vielen Schicksalsschlägen der Heldin erfuhr. «Die arme Angelica! So viele Verehrer und so wenig Macht, sich ihnen zu widersetzen oder auch nur ihren Willen aufzuzwingen.»
Längst sang das ganze Dorf unisono ihr Lob. Der Holzfäller Gaglioffo bedachte Qara Köz und ihren Spiegel nicht länger mit solch einem groben Ausdruck wie «Hexen» und sprach auch nicht mehr davon, sie «vögeln» zu wollen, sondern redete über sie nur mit einer großäugigen, respektvollen Ehrfurcht, die es ihm offenkundig nicht gestattete, von einer fleischlichen Beziehung mit den beiden hohen Frauen auch nur zu träumen. Die Gebrüder Frosino, die Dorfgigolos, erklärten kühn, um Angelicas Hand anhalten zu wollen, da niemand genau wusste, ob sie mit Argalia dem Türken wirklich ordnungsgemäß verheiratet war - sollte sich dies allerdings bewahrheiten, willigten die beiden Müller ein, ihm in dieser Angelegenheit keinesfalls in die Quere kommen zu wollen -, doch für den Fall, dass beide Frauen noch ledig seien, bekundeten sie ihr Interesse und gingen mit ihrer brüderlichen Liebe gar so weit, sich bereit zu erklären, sie und ihre Dienerin untereinander in regelmäßigem Turnus zu tauschen, mal der eine, mal der andere. Niemand sonst war ganz so dämlich wie Frosino Uno und Due, doch stand Qara Köz allgemein in hohem Ansehen, und Frauen wie Männer erklärten, von ihr «verzaubert» zu sein.
Doch falls dies Zauberei war, war es Zauberei der behutsams-ten Art. Alle Florentiner waren wohlvertraut mit den raffgieri-gen Prozeduren der dunklen Zauberinnen ihrer Zeit, den Anrufungen von Dämonen, um züchtige Männer zu unzüchtigen Taten anzustacheln, dem Gebrauch von langen Nadeln und lebensechten Puppen, um Widersacher zu quälen, der Fähigkeit, vernünftige Männer so weit zu bringen, dass sie Haus und Arbeit verließen, nur um ihre willigen Sklaven zu werden. Im Haus von Il Machia war weder Qara Köz noch ihrer Dienerin je anzumerken, dass die bei den Frauen Schwarze Künste praktizierten, zumindest wurden gewisse Anzeichen nie für problematisch gehalten. Hexen gingen gern in Wäldern spazieren, das war allgemein bekannt, doch die Streifzüge von Qara Köz und Spiegel durch die heimischen Haine war nach Ansicht der ehrenwerten Leute von Percussina kaum mehr als «charmant» zu nennen. Die Kunde vom Vorfall mit den Alraunen verbreitete sich kaum, und seltsamerweise fand Il Machia auch die entsprechende Stelle nie wieder, noch bekamen Niccolo und Aga die entwurzelten Pflanzen je wieder zu Gesicht, weshalb es ihnen leichtfiel, sich zu fragen, ob das Vorgefallene tatsächlich stattgefunden hatte.
Hexen wird allgemein nachgesagt, ausgeprägt sapphischen Neigungen anzuhängen, doch niemand, nicht einmal Marietta Corsini, fand die Entscheidung der beiden Damen, ein Bett miteinander zu teilen, sonderlich beunruhigend. «Ach was, sie wollen einfach nicht allein sein», erklärte Marietta ihrem Mann mit schwerfälliger Stimme, und der nickte bedächtig, als stünde er unter der einschläfernden Wirkung des am Nachmittag allzu reichlich genossenen Weins. Was die berüchtigte Lüsternheit betraf, die Hexen vorzugsweise mit dem Teufel selbst kopulieren ließ, nun, so waren in ganz Percussina einfach keine Teufel zu finden, es stiegen auch keine aus dem Höllenschlund auf, um im Kamin ein meckriges Gelächter anzustimmen, noch hockten sie wie Wasserspeier auf dem Dach der Taverne oder der Kirche. Dabei war es eine Zeit der Hexenjagd, und in der Stadt konnte man vor Gericht Frauen hören, die sich zu den schändlichsten Taten bekannten und gestanden, sich mit Hilfe von Wein, Weihrauch, Monatsblut und aus Totenschädeln getrunkenem Wasser Herz und Verstand braver Bürger gefügig gemacht zu haben. Doch obzwar es stimmte, dass jedermann in Percussina in Prinzessin Qara Köz verliebt schien, war die derart ausgelöste Verehrung gänzlich keuscher Natur - sah man vielleicht einmal von den übermäßig unter ihrem Geschlechtstrieb leidenden Brüdern Frosino ab. Nicht einmal Ago Vespucci, dieses romantische Mondkalb, der sie lieben wollte, bis, wie er gesagt hatte, einer von ihnen beiden starb, hegte zu jener Zeit auch nur die geringste Hoffnung, tatsächlich ihr Liebhaber werden zu wollen. Sie anzubeten war der Freude genug.
Jene, die später die Geschichte der Zauberin von Florenz auf-zeichneten und analysierten, allen voran Gianfrancesco Pico della Mirandola, Neffe des großen Philosophen Giovanni und Autor von La strega ovvero degli inganni de, demoni, «Die Hexe oder die Irreführung der Dämonen»,, kamen zu dem Schluss, dass der Pesthauch der Faszination, den Qara Köz in Percussina verströmte und der sich rasch in der ganzen Gegend bis hin nach San Casciano und Val di Pesa ausbreitete, nach Impruneta und Bibione, Faltignano und Spedaletto, dass dieses Miasma also Folge eines absichtlich verhängten Zaubers von ungeheurer Macht war, verhängt in der Absicht, die eigenen Kräfte zu erproben ebenjene Kräfte, die sie später mit solch außerordentlicher Wirkung in und um die Stadt Florenz selbst einsetzen sollte -, sowie um ihr den Weg in eine ansonsten vielleicht feindselig gesinnte Umgebung zu ebnen. Gian Francesco berichtet, als Argalia, der Türke, mit seinen vier Schweizer Riesen zurückkehrte, habe er eine beträchtliche Menschenmenge vor dem Anwesen der Machiavelli angetroffen, beinahe so, als wäre ein Wunder geschehen, als wäre die Madonna in Percussina erschienen und alles Volk wäre zusammengeströmt, um sie zu sehen. Kaum traten Qara Köz und ihr Spiegel aus dem Haus, angetan mit schönstem Brokat und edelstem Schmuck, fielen die Versammelten tatsächlich auf die Knie, als bäten sie um den Segen der Prinzessin, den diese ohne Worte, doch mit einem Lächeln und leicht erhobenem Arm auch zu erteilen schien. Dann war sie fort, und als erwachte Marietta Corsini aus einem Traum, schrie sie jeden an, der über ihr Land trampelte, er solle sich fortscheren. Gianfrancesco schrieb dazu: «Die Bauern kamen wieder zu Verstand und mussten mit Erstaunen feststellen, wo sie sich befanden. Sie kratzten sich verwundert am Kopf und kehrten dann nach Hause zurück, auf die Felder, zur Mühle, zum Wald oder zu den Brennöfen.»
Andrea Alciato, der die Auffassung vertrat, dass Hexen und ihre Adepten mit pflanzlichen Heilmitteln behandelt werden sollten, schrieb den geheimnisvollen «Percussina-Vorfall» jenen allzu schlechten Essgewohnheiten der Dorfbewohner zu, die sie anfällig für Phantastereien und Halluzinationen machten, während es sich bei der Andeutung von Bartolomeo Spina, Autor des ein Jahrzehnt nach den Ereignissen verfassten De Strigibus, Qara Köz könnte die Dorfbewohner in satanische Ekstase versetzt und mit ihnen eine große, orgiastische schwarze Messe veranstaltet haben, wohl um eine verleumderische Unterstellung handelt, für die sich in den historischen Unterlagen jener Zeit nicht der geringste Beleg finden lässt.

Als Antonino Argalia, genannt der Türke, neuer condottiere von Florenz und frischbestallter Kommandant der Miliz, in Florenz einzog, wurde seine Berufung mit ebenjenen ausschweifenden, hedonistischen Feierlichkeiten begangen, für die diese Stadt so bekannt war. Auf der Piazza della Signoria hatte man eine hölzerne Burg errichtet, die zum Schein mit dreihundert Mann bestürmt wurde, während hundert Soldaten das Gebäude verteidigten. Niemand trug eine Rüstung, doch wurde dermaßen hart gekämpft, mit Lanzen aufeinander eingedroschen und mit ungebrannten Ziegeln geworfen, dass manch ein Komparse zum Hospital von Santa Maria Nuova gebracht werden musste, wo einige von ihnen leider auch starben. Auf der Piazza veranstaltete man eine Stierhatz, und die Stiere schickten ebenfalls manch einen Festteilnehmer ins Hospital. Man ließ außerdem zwei Löwen gegen einen schwarzen Hengst kämpfen, doch reagierte das Pferd so kühn auf den Angriff des ersten Löwen, schlug nach ihm aus und trieb ihn von der Mercantantia, in der das Gericht der Kaufmannsgilde tagte, bis mitten auf die Piazza, sodass der König der Tiere schließlich Reißaus nahm und sich in einer dunklen Ecke des Platzes verkroch. Danach schien auch der zweite Löwe nicht mehr willens, sich in die Keilerei einzumischen. Man hielt das allgemein für ein gutes Omen, da das Pferd natürlich Florenz verkörperte und man in den Löwen die Feinde der Stadt sah, ob nun Frankreich, Mailand oder sonst eine schuftige Gegend.
Nach diesen Präliminarien erreichte die Prozession die Stadt.
Zuerst kamen acht ‘dfici, Plattformen auf Rädern also, auf de-nen Schauspieler die Siegesposen eines großen Kriegers der Geschichte nachstellten, etwa von Marcus Furius Camillus, Zensor, Diktator und sogenannter zweiter Gründer von Rom, der gezeigt wurde, wie er nach der Belagerung von Veji vor fast zweitausend Jahren Gefangene nahm und eine enorme Beute an Waffen, Gewändern und Silber machte. Daran anschließend folgten Männer, die auf den Straßen tanzten und sangen, sowie vier Schwadronen schwerbewaffneter Kavalleristen mit angelegten Lanzen. (Die Schweizer Riesen Otho, Botho, Clotho und d’ Artagnan hatten das Kommando über die Ausbildung an der Lanze gewählt, ~ alle Welt den geschickten Umgang der Schweizer Infanteristen mit der Lanze fürchtete. Und schon nach nur ein oder zwei vorläufigen Übungsstunden war für jedermann deutlich zu sehen, dass die Miliz ihre Lanzen deutlich besser zu handha-ben wusste., Endlich ritt auch Argalia durch das große Tor, flankiert von seinen vier Schweizer Klatschmäulern, gleich dahinter der Serbe Konstantin zwischen den beiden Ausländerinnen, danach die hundert Janitscharen, deren Aufmachung Entsetzen im Herzen aller Zuschauer weckte. Jetzt ist unsere Stadt sicher, hörte man jemanden rufen, denn unsere unbesiegbaren Beschützer sind gekommen. Dieser Name - die Unbesiegbaren - blieb an den neuen Wächtern der Stadt hängen. Herzog Giuliano, der vom Balkon des Palazzo Vecchio herabwinkte, schien es zu freuen, dass sein neuer Mitstreiter bei der Öffentlichkeit so gut ankam, wohingegen sein Neffe Lorenzo einen mürrischen und griesgrämigen Eindruck machte. Als Argalia zu den beiden mächtigen Medici aufsah, wurde ihm klar, dass er den Jüngeren besonders aufmerksam im Blick behalten musste.

Herzog Giuliano erkannte in Qara Köz auf Anhieb die Frau aus dem Zauberspiegel wieder, das Objekt seiner knospenden Begierde, und vor Freude hüpfte ihm das Herz im Leib. Lorenzo de’ Medici sah sie ebenfalls, und mit lüsternem Verlangen träumte er davon, sie zu besitzen. Was Argalia betraf, so kannte er die Gefahr, seine Geliebte derart prächtig geschmückt in die Stadt zu bringen, und dies noch unter den Augen jenes Herzogs, dessen Namensvetter, sein Onkel, einst die große Schönheit der Stadt schamlos ihrem Mann gestohlen hatte, dem Gehörnten Marco Vespucci, woraufhin dem Armen sein Selbstwertgefühl so vollständig abhandenkam, dass er nach dem Tod seiner Frau an ihre Kleider und Gemälde in den Palazzo Medici schickte, damit der Herzog auch noch die letzten Reste dessen besäße, was von ihr geblieben war, um dann zum Ponte alle Grazie zu gehen und sich zu erhängen. Doch Argalia gehörte nicht zu denen, die zu Selbstmord neigen; er sagte sich, dass der Herzog kaum den starken Mann des Militärs gegen sich aufzubringen wünschte, den er eben erst eingestellt hatte und dessen Einzug in die Stadt er gerade feierte. Wenn er sie mir aber doch nehmen will, dachte Argalia, wird er sehen, dass ich ihn mit all meinen Männern erwarte. Und wollte er sie mir gegen solch einen Widerstand nehmen, müsste er schon Herkules oder Mars sein, was dieses Sensibelchen, wie für niemanden zu übersehen, ganz offenkundig nicht ist.
Vorläufig jedenfalls war er froh, sie herumzeigen zu können. Als die Menge Qara Köz zu Gesicht bekam, breitete sich in der Stadt ein Flüstern aus, das gleich darauf zu einem Murmeln anschwoll, in dessen Folge der turbulente Lärm des Tages verstummte. Und so kam es, dass sich eine ungewohnte Stille über die ganze Stadt gelegt hatte; als Argalia mit den bei den Damen am Palazzo Cocchi deI Nero anlangte, gedachten die Bürger von Florenz doch der Ankunft körperlicher Vollkommenheit in ihrer Mitte, einer dunklen Schönheit, die jene Leere füllte, welche seit Simonetta Vespuccis Tod in ihren Herzen klaffte. Schon wenige Augenblicke nach ihrem Eintreffen hatte die Stadt Qara Köz als ihr ureigenes Gesicht angenommen, als das neue Symbol ihrer selbst, als die menschliche Verkörperung ihrer eigenen unübertroffenen Lieblichkeit. Die dunkle Dame von Florenz: Dichter griffen zu ihren Stiften, Maler nach ihren Pinseln, Bildhauer nach ihren Meißeln. Das gemeine Volk, die wildesten, aufmüpfigsten vierzigtausend Seelen in ganz Italien, ehrte sie auf eigene Weise, indem es still wurde und verstummte, wo immer sie vorüberging. Folglich konnte jedermann hören, was geschah, als Herzog Giuliano und Lorenzo de’ Medici der Gefolgschaft am Eingang zu Argalias neuem Haus entgegentraten, einem vierstöckigen Gebäude mit drei hohen Torgewölben in einer pietraforte-Fassade. Über dem Eingang, im Mittelpunkt der Fassade, prangte das Wappen der Familie Cocchi deI Nero, die in letzter Zeit ein wenig Pech gehabt hatte und deshalb den Palast an die Medici verkaufen musste. Es war das größte architektonische Meisterwerk in einer Straße voller Meisterwerke, zu denen auch die weitläufigen Residenzen einiger der ältesten Familien der Stadt gehörten, die der Soldanieri, der Monaldi, der Bostichi, der Cosi, der Bensi, der Bartolini, der Cambi, der Arnoldi und der Davizzi. Herzog Giuliano wollte Argalia und auch allen übrigen Anwesenden beweisen, wie großzügig sein Geschenk war, und richtete seine erste Bemerkung deshalb mit einer kleinen Verbeugung und allerhand schwungvollen Gesten nicht an Argalia, sondern an Qara Köz.
«Ich freue mich», sagte er, «einem solch exquisiten Juwel das passende Schmuckkästchen bieten zu können.» Qara Köz erwiderte mit weithin schallender Stimme: «Ich bin kein billiger Tand, mein Herr, sondern eine Prinzessin aus dem königlichen Geblüt von Timur und Temüdschin - also von Genghis Qan, den ihr Dschingis Khan nennt -, und ich erwarte, meinem Rang gemäß angesprochen zu werden.»
Mongole! Mogor! Diese ruhmreichen, fremdländischen Worte durchliefen die Menge und weckten ein fast erotisches Gemenge aus Erregung und Schrecken. Es war Lorenzo de’ Medici, rot im Gesicht vor lauter Aufgeblasenheit, der aussprach, was manch einer fürchtete, womit er Argalias Einschätzung bestätigte, dass es sich bei ihm nur um einen eitlen, zweitklassigen Jungen handeln konnte. «Was seid Ihr für ein Narr, Argalia», rief Lorenzo, «durch die Entführung dieser anmaßenden Tochter der Mogoren bringt Ihr die Goldene Horde über uns.» Mit ernster Miene erwiderte Argalia: «Das wäre wahrlich eine außerordentliche Tat, besonders da es die Horde nicht mehr gibt und ihre Macht auf immer vom Vorfahren ebendieser Prinzessin gebrochen wurde, von Tamerlan, und dies vor mehr als hundert Jahren. Außerdem, meine Herren, habe ich niemanden entführt. Die Prinzessin war die Gefangene des Schahs Ismail von Persien, und ich habe sie nach unserem Sieg in der Schlacht von Chaldiran befreit. Sie kam aus freien Stücken mit und in der Hoffnung, eine Brücke zwischen den großen Kulturen Europas und des Ostens schlagen zu können, wohl wissend, dass sie viel von uns lernen kann, aber auch in der Überzeugung, dass sie uns manches zu lehren vermag.»
Diese Erklärung fand das Wohlwollen der lauschenden Menge die darüber hinaus mächtig von der Neuigkeit beeindruckt war, dass ihr neuer Beschützer in jener schon fast legendären Schlacht auf der Seite der Gewinner gestanden hatte -, und zahlreiche Jubelrufe zu Ehren der Prinzessin wurden laut, die weitere Einwände in ihrer Gegenwart unmöglich machten. Herzog Giuliano, der geschickt seine Überraschung und sein Unbehagen zu verbergen wusste, bat mit erhobener Hand um Ruhe. «Wenn solch bedeutsamer Gast nach Florenz kommt, rief er, «muss die Stadt sich von ihrer besten Seite zeigen - und das wird Florenz auch tun.»

Der Palazzo Cocchi del Nero barg einen der prächtigsten grands salons der Stadt, einen acht Meter breiten und nahezu zwanzig Meter langen Saal mit einer fast sieben Meter hohen Decke, erhellt von fünf riesigen Bleiglasfenstern, ein Saal, in dem es sich auf das fürstlichste feiern ließ. Das große Schlafzimmer, allgemein nur Brautgemach genannt, an dessen vier Wänden ein reliefbedeckter Fries mit Bildern aus einem romantischen Gedicht von Antonio Pucci prangte, welches seinerseits auf eine alte provenzalische Liebesgeschichte zurückging, war ein Raum, in dem sich zwei (oder drei, Liebende ganze Tage und Nächte vergnügen konnten, ohne je das Bedürfnis zu verspüren, aufstehen oder aus dem Haus gehen zu müssen. Dies war, mit anderen Worten, ein Herrensitz, an dem Qara Köz sich wie eine der großen Damen von Florenz hätte aufführen können, separat vom gemeinen Volk, zugänglich nur für die vornehmsten Familien der Stadt. Doch die Prinzessin hatte nicht vor, ihre Zeit auf diese Weise zu verbringen.
Es ließ sich nicht übersehen, dass sie und ihr Spiegel das unverschleierte Leben genossen. Tagsüber ging die Prinzessin durch die dicht bevölkerten Straßen zum Markt oder sah sich einfach die Sehenswürdigkeiten an und mengte sich, mit Spiegel als Begleiterin und einzig dem Serben Konstantin zum Schutz, auf eine Weise unter das Volk, wie es vor ihr keine hohe Dame von Florenz je getan hatte. Allein deshalb liebten sie die Florentiner. «Simonetta Due» wurde sie anfangs genannt, Simonetta die Zweite, doch als sich der Name verbreitete, den sie und Spiegel wahlweise füreinander benutzten, wurde sie zu «Angelica die Erste.» Man warf ihr Blumen vor die Füße, wo immer sie hinging. Und allmählich beschämte ihre Furchtlosigkeit die jungen Frauen aus gutem Hause so sehr, dass sie sich ebenfalls vor die Tür trauten. Im Bruch mit der Tradition kamen sie abends hervor, um zu zweit oder zu viert durch die Straßen zu flanieren, zum großen Entzücken der jungen Herren, die endlich guten Grund hatten, den Bordellen fernzubleiben. Die Hurenhäuser leerten sich, und es begann der sogenannte Untergang der Kurtisanen. Der Papst in Rom, der den plötzlichen Wandel in der öffentlichen Moral seiner Heimatstadt zu schätzen wusste, fragte sich gegenüber Herzog Giuliano, als der gerade einmal die Ewige Stadt besuchte, ob es sich bei der dunklen Prinzessin, die doch behauptete, keine Christin zu sein, nicht womöglich um die jüngste Heilige seiner Kirche handeln könne. Giuliano, ein religiöser Mann, kolportierte diese Anekdote im Beisein eines Höflings, und bald darauf verbreiteten sie die Flugblattschreiber der ganzen Stadt. Kaum aber hatte Leo X. auf diese Weise über Qara Köz’ möglicherweise gesegnetes Wesen spekuliert, da tauchten erste Berichte über ihre Wunder auf.
Viele von denen, die sie durch die Straßen spazieren sahen, behaupteten, um sie herum die kristallene Musik der Sphären gehört zu haben, andere schworen, sie hätten einen Lichterkranz um ihren Kopf gesehen, breit genug, um auch bei hellstem Tageslicht erkennbar zu sein. Unfruchtbare Frauen kamen zu Qara Köz und baten sie, ihren Bauch zu berühren, um dann der Welt zu erzählen, dass sie noch in derselben Nacht empfangen hätten. Blinde lernten sehen, Lahme gehen, bloß eine nachweisbare Auferstehung von den Toten fehlte unter den Berichten von ihren Wundertaten. Selbst Ago Vespucci schloss sich den Reihen der Wundergläubigen an und behauptete, ihr Segen ruhe auf seinem Weinberg, der, seit sie ihn gnädigerweise besucht habe, den edelsten Tropfen hervorbringe, den seine Familie je ernten durfte; und er versprach, kostenlos einmal im Monat ein Fässchen zum Palazzo Cocchi del Nero zu bringen.
Kurz und gut, die als Angelica entschleierte Qara Köz war zur vollen Blüte ihrer weiblichen Fähigkeiten herangereift und übte sie nun in vollem Umfang aus, kühlte die Luft mit einem gütigen Hauch, der die Gedanken der Florentiner mit Bildern elterlicher, kindlicher, körperlicher und göttlicher Liebe füllte. Anonyme Flugblattschreiber erklärten sie zur Reinkarnation der Göttin Venus. Sanfte Düfte der Versöhnung und Harmonie durchzogen die Luft, man arbeitete schwerer, aber auch produktiver, das Familienleben wurde besser, die Geburtenrate stieg, und die Kirchen waren voll. Sonntags hörten die Medici in der Basilika San Lorenzo Predigten, die nicht bloß die Tugenden der Oberhäupter aller mächtigen Familien rühmten, sondern auch jene ihres Gastes, einer Prinzessin nicht allein im fernen Indien oder Cathay, sondern auch bei uns daheim in Florenz.. Das war die strahlend helle Zeit der Zauberin, die Dunkelheit aber ließ nicht lange auf sich warten.
In jenen Tagen steckten die Köpfe der Leute voller Bilder von imaginären Hexen, Bilder von Alcina zum Beispiel, der bösen Schwester von Morgana le Fay, mit der sie die dritte Schwester verfolgte, die gute Hexe Logistilla, eine Tochter der Liebe; sodann von Melissa, der Zauberin von Mantua; von Dragontina, die den Ritter Orlando gefangen nahm; von der uralten Circe, aber auch der namenlosen, jedoch furchterregenden Zauberin von Syrien. Die Hexe als hässliches Ungeheuer, als altes Weib, wich in der Vorstellungswelt der Florentiner jener hinreißenden Kreatur, deren offenes Haar eine lockere Moral verriet, deren Verführungskünste unwiderstehlich schienen, deren Magie manchmal im Dienste des Guten eingesetzt wurde, manchmal aber auch, um Schaden anzurichten. Nach der Ankunft von Angelica nahm die Idee der guten Zauberin schließlich feste Gestalt an als die eines wohlwollenden, übermenschlichen Wesens, das zugleich Göttin der Liebe und Beschützerin des Volkes war. Dort drüben ging sie schließlich über den Mercato Vecchio, lebensgroß - «Koste meine Birnen, Angelica!» - «Das sind ganz süße, saftige Pflaumen, Angelica!» -, kein Hirngespinst, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut. Also wurde sie angehimmelt, und man glaubte, sie sei zu Großem fähig, doch trennt die Zauberin nur ein schmaler Grat von der Hexe. Es gab noch immer Stimmen, die andeuteten, diese neue Inkarnation einer Magierin, die alle okkulte Macht der Frauen freisetzte, sei nichts als Maskerade, und die wahren Gesichter solcher Damen seien doch immer noch die gefürchteten Fratzen der Lamia, der alten Vettel.

Jene Skeptiker, die dank ihres griesgrämigen Naturells eine Abneigung gegen übernatürliche Erklärungen für geschichtliche Ereignisse hegen, ziehen es vermutlich auch vor, konventionellere Gründe für die goldene Zeit der allgemeinen Zufriedenheit und des materiellen Wohlstandes anzugeben, die Florenz in jenen Tagen genoss. Unter der gütig tyrannischen Regentschaft von Leo X., dem eigentlichen Herrn und Meister von Florenz, den man, je nach Blickwinkel, für ein Genie oder für einen aufgeblasenen Narren hielt, gedieh die Stadt, die Feinde zogen sich zurück usw., usw. Für Schwarzseher solch verbitterter Zunft würde natürlich das Treffen des Papstes mit dem König von Frankreich im Anschluss an die Schlacht von Marignano im Vordergrund stehen, ebenso seine Bündnisse und Verträge, die neuen Territorien, die er kaufte oder an sich riss und den Florentinern sehr zu ihrem Gewinn zur Verwaltung überließ, oder die Tatsache, dass er Lorenzo de’ Medici zum Herzog von Urbino ernannte oder Giuliano de’ Medici mit Prinzessin Filiberta von Savoyen verheiratete, woraufhin ihm Francois 1., König von Frankreich, zum Dank das Herzogtum Nemours überließ und ihm überdies vielleicht noch ins Ohr flüsterte, dass ihm auch bald Neapel gehören würde …

Diesen Korinthenkackern, die trockner als Staub sind, sei zugestanden: Ja, die Macht des Papstes war zweifellos enorm. Ebenso die Macht des Königs von Frankreich oder auch die des Königs von Spanien, der Schweizer Armee und des osmanischen Sultans, all diese Herrscher, die pausenlos miteinander im Krieg lagen, Hochzeiten abhielten, sich versöhnten, ihres Amtes enthoben wurden, Siege feierten, Niederlagen erlitten, Ränke schmiedeten, Diplomatie betrieben, Vergünstigungen kauften und verkauften, Steuern erhoben und Intrigen planten, die Kompromisse eingingen, in ihren Entschlüssen schwankten und die weiß der Teufel was sonst noch trieben. Zum Glück ist all dies völlig belanglos.
Nach einiger Zeit machten sich bei Qara Köz erste Anzeichen physischer wie spiritueller Erschöpfung bemerkbar. Ihr Spiegel stellte sie gewiss als Erste fest, beobachtete sie ihre Herrin doch zu jeder Minute jeden Tages: Also dürfte ihr die leichte Angespanntheit der sinnlichen Lippen aufgefallen sein, das über die Muskeln ihrer Tänzerinnenarme huschende Zucken, die Kopfschmerzen und die gereizten Augenblicke, die sie vermutlich ebenso klaglos erduldet hatte. Vielleicht war es aber auch Argalia, der Türke, der sich um sie sorgte, da sie zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Romanze seine Annäherungen abwehrte und Spiegel bat, ihn an ihrer statt zufriedenzustellen. Mir ist nicht danach. Ich bin zu müde. Mein Verlangen hat nachgelassen. Nehmt es nicht persönlich. Warum versteht Ihr das nicht? Ihr seid schon, wer Ihr seid, ein mächtiger Kriegsheld”, Ihr habt nichts mehr zu beweisen. Ich dagegen muss noch zu werden versuchen, was in mir steckt. Wie könnt Ihr mich lieben und das nicht verstehen? Das ist keine Liebe, das ist blanker Egoismus. Der banale Verfall einer Liebe, der bis zum bitteren Ende zanken lässt. Argalia wollte nicht glauben, dass es mit ihrer Liebe zu Ende gehen könnte. Er wollte einfach nicht. Er verdrängte jeden Gedanken daran. Ihre Liebe war die Liebesgeschichte ihrer Zeit. Sie konnte nicht in Banalität und Kleinlichkeit versiegen.
Sogar Herzog Giuliano fiel auf, dass dem Zauberspiegel etwas fehlte, in den er zum großen Ärger seiner Frau, Filiberta von Savoyen, immer noch jeden Tag stierte. Die Verbindung mit Filiberta verdankte sich ausschließlich politischen Überlegungen. Die Dame aus Savoyen war nicht jung, sie war auch nicht schön. Und nach der Hochzeit fuhr Herzog Giuliano fort, Qara Köz aus der Ferne zu verehren, doch muss schon aus Fairness gegenüber dem gebrechlichen, gottesfürchtigen Mann gesagt werden, dass er nie versuchte, sie seinem großen General abspenstig zu machen, und dass er sich damit zufriedengab, ihr zu Ehren eine festa zu veranstalten, wie sie höchstens noch mit den Feierlichkeiten zum Besuch des Papstes in Florenz vergleichbar war. Als Filiberta bei ihrer Ankunft in Florenz vom legendären Fest für die Prinzessin der Moguln hörte und verlangte, ihr Mann solle seiner neuen Braut eine wenigstens gleichwertige Lustbarkeit ausrichten, erwiderte Giuliano, ein solcher Karneval sei doch wohl erst angemessen, wenn sie ihm einen Erben schenkte. Allerdings suchte er nur noch selten ihr Schlafgemach auf, und sein einziger Sohn würde ein Bastard sein, Ippolito, der einstmals Kardinal werden sollte, wie es Bastarden gelegentlich gelingt. Nach dieser Schmach begann Filiberta, die Prinzessin von Herzen zu hassen, und kaum erfuhr sie von der Existenz des Zauberspiegels, hasste sie den auch. Als sie dann eines Tages vernahm, wie Giuliano über das kränkliche Aussehen der dunklen Prinzessin klagte, hatte Filiberta die Nase voll. «Ihr geht es nicht gut», sagte Giuliano bekümmert, während er wie gewöhnlich in den Zauberspiegel stierte. «Sieh dir nur das arme Mädchen an. Sie leidet.» Da schrie Filiberta: «Ich gebe ihr allen Grund zu leiden», und warf die silberne Haarbürste mit solcher Wucht in den Zauberspiegel, dass das Glas zersprang. «Mir geht es nicht gut», sagte sie. «Ehrlich gesagt, ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht so schrecklich gefühlt. Kümmere dich um meine Gesundheit mindestens so sehr wie um ihre.»
Die Wahrheit war, dass Qara Köz es übertrieb, dass keine Frau eine solch ungeheure Anstrengung über einen derart langen Zeitraum aufzubringen vermochte. Die Verzauberung von vierzigtausend Menschen, Monat um Monat, Jahr um Jahr, war selbst für sie zu viel. Nur noch selten gab es Berichte von Wundertaten, dann versiegten sie ganz. Der Papst verlor kein Wort mehr über eine Seligsprechung.
Und anders als Alanquwa, die Sonnengöttin, besaß Qara Köz keine Macht über Leben und Tod. Drei Jahre nach ihrer Ankunft in Florenz erkrankte Giuliano de’ Medici und starb. Filiberta packte hastig ihr Hab und Gut zusammen, darunter auch die gesamte, ungeheuer wertvolle Aussteuer, und verschwand auf der Stelle und ohne alle weiteren Umstände wieder nach Savoyen. «Florenz ist unter die Fuchtel einer Sarazenenhure gefallen», sagte sie bei ihrer Heimkehr, «die Stadt ist kein Ort mehr für eine gläubige Christin.»

18. Zu dem Vorfall mit den Löwen und dem Bären…

Zu dem Vorfall mit den Löwen und dem Bären war es wäh-rend der festa für Qara Köz gekommen. Am ersten Tag hatte der palio stattgefunden, ein Pferderennen, danach gab es ein Feuerwerk. Am zweiten Tag wurden auf der Piazza della Signoria wilde Tiere freigelassen: Bullen, Büffel, Hirsche, Bären, Leoparden und Löwen. Berittene, aber auch Lanzenträger zu Fuß und in einer riesigen Holzschildkröte sowie einem hölzernen Stachelschwein versteckte Männer kämpften mit den Tieren. Ein Mann wurde von einem Büffel getötet.
Irgendwann packte der größte Löwe einen Bären bei der Kehle, um ihn zu töten, als sich zum allgemeinen Erstaunen eine Löwin zugunsten des Bären einmischte und den Löwen so fest biss, dass er den Bären freilassen musste. Der Bär erholte sich, doch die übrigen Löwen schnitten die Löwin, die den Bären gerettet hatte, sodass sie betrübt den viereckigen Platz ablief, niemanden angriff und allem Anschein nach untröstlich - nicht einmal den Spott und das Geschrei der Jäger beachtete. In den folgenden Tagen und Monaten wurde vielerorts über die Bedeutung dieses merkwürdigen Vorfalls diskutiert. Man war allgemein der Auffassung, dass die Löwin Qara Köz verkörperte, wer aber war dann der Bär und wer der Löwe? Die Erklärung, die sich schließlich durchsetzte und als Wahrheit etablierte, stammte aus einem anonymen Pamphlet, dessen Autor - was nur wenige Florentiner wussten - Niccolo Machiavelli hieß, ein beliebter Theaterschriftsteller und in Ungnade gefallener Politiker. Die Löwin sei bereit gewesen, sich um des Friedens willen zwischen ihre eigene und eine fremde Spezies zu stellen. Auf gleiche Weise sei Qara Köz zu ihnen gekommen, um Mächte miteinander zu versöhnen, die unversöhnlich schienen, auch wenn sie sich dabei gegen ihr eigenes Volk wenden musste. «Im Gegensatz zu der Löwin auf der Piazza aber war diese menschliche Löwin nicht allein. Sie hat und wird immer wahre Freunde unter den Bären finden.» So wurde Qara Köz für viele Menschen zum Symbol des Frie-dens, der Selbstaufopferung im Namen des Friedens. Es wurde auch allerhand über die «Weisheit des Ostens» geredet, doch tat sie derlei stets verächtlich ab, sooft es ihr zu Ohren kam. «Es gibt keine besondere östliche Weisheit», sagte sie zu Argalia. «Die Menschen sind überall im selben Maße töricht.»

Kaum hatten Qara Köz und ihr Spiegel Il Machias Haus verlassen, spürte er, wie ihn eine bittere Traurigkeit überkam, eine Traurigkeit, die ihn die restlichen dreizehn Jahre seines Lebens nicht wieder verlassen sollte. Als ihn die Macht aus ihren Gemächern vertrieb, hatte er Freunde verloren, und Ruhm war nur noch eine blasse Erinnerung, doch der Abzug großer Schönheit aus seinem Leben machte das Maß voll. Jetzt, da kein Bann der Zauberin mehr über Percussina lag, hielt er seine Frau wieder für eine watschelnde Ente und seine Kinder für eine finanzielle Last. Gelegentlich machte er zwar noch einen kleinen Abstecher zu anderen Frauen, nicht allein zur singenden Barbera, auch zu einer Dame in der Nachbarschaft, deren Mann ohne ein Wort des Abschieds einfach davongelaufen war, doch munterten ihn diese Besuche nicht mehr auf. Voller Neid dachte er des Öfteren an den fortgelaufenen Gatten und überlegte ernsthaft, eines Nachts selbst zu verschwinden. Seine Familie könnte er glauben lassen, er sei tot, und wenn er auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, was er danach mit seinem Leben anfangen sollte, hätte er diesen Plan vielleicht sogar in die Tat umgesetzt. Stattdessen brachte er untertänigst die Überlegungen und Einsichten seines Lebens in jenem kurzen Buch zu Papier, das er in der Hoffnung schrieb, damit die Gunst des Hofes wiedererlangen zu können, sein kleines Fürstenspiegelstück, ein derart düsterer Spiegel allerdings, dass er selbst fürchtete, es würde keinerlei Gefallen finden. Aber sollte Weisheit nicht höher geschätzt werden als Leichtfertigkeit, Klarheit nicht höher als Lobhudelei? Er widmete das Buch Giuliano de’ Medici und schrieb den gesamten Text von eigener Hand; als aber Giuliano starb, schrieb er das Buch noch einmal, diesmal für Lorenzo. In seinem Herzen wusste er jedoch, dass ihn die Schönheit auf immer verlassen hatte, dass kein Schmetterling sich auf einer verwelkten Blume niederlässt, und das machte ihm mehr zu schaffen als alles andere. Er hatte in ihre Augen geschaut, und sie hatte ihn welken sehen und sich von ihm abgewandt. Es war, als hätte man ihn zum Tode verurteilt.
Als Argalia kam, seine Frau zu holen, verbrachte Il Machia mit dem neuen General von Florenz zwanzig Minuten allein in seiner Bibliothek. «Mein Leben lang», erzählte Argalia, «schon seit ich ein kleiner Junge war, hat mein Motto gelautet: Tu, was du zu tun hast, um dahin zu kommen, wohin du willst. Ich habe überlebt, weil ich herausfand, was mir am meisten nützte, und diesem Stern bin ich stets gefolgt, über jedes Treuebündnis, über allen Patriotismus, über die Grenzen der bekannten Welt hinaus. Ich, ich, immer nur ich. Das ist das Motto der Überlebenden. Sie aber hat mich gezähmt, Machia. Ich weiß, wie sie ist, denn sie ist immer noch so, wie ich einmal war. Sie liebt mich, bis es ihr nicht länger nützt, mich zu lieben. Sie betet mich an, bis die Zeit kommt, in der sie mich nicht mehr anbetet. Also mache ich es mir zur Aufgabe, diesen Zeitpunkt möglichst lange hinauszuzögern. Denn ich liebe sie nicht auf diese Weise. Die Liebe, die ich für sie hege, weiß, das Wohl des Geliebten ist wichtiger als das des Liebenden, wahre Liebe ist Selbstlosigkeit. Qara Köz weiß das nicht, glaube ich. Ich würde für sie sterben, sie aber nicht für mich.»
«Dann will ich nur hoffen, dass du nicht für sie sterben musst», sagte Niccolo, «denn das wäre eine Verschwendung deines guten Herzens.»
Einen Moment lang war er auch mit ihr allein, mit ihr und ih-rem Spiegel, von dem sie unzertrennlich war und dem, wie Il Machia annahm, wohl ihre wahre Liebe galt. Er redete mit ihr nicht über Herzensdinge. Das wäre unangemessen gewesen, unhöflich. Stattdessen sagte er: «Dies ist Florenz, werte Dame, und Ihr werdet hier ein gutes Leben führen, denn die Florentiner wissen, wie man gut lebt. Doch wenn Ihr weise seid, haltet Ihr Euch immer ein Hintertürchen offen. Ihr plant Euren Fluchtweg und achtet stets darauf, dass er Euch nicht verstellt wird. Denn wenn der Arno über die Ufer tritt, dann ertrinkt, wer kein Boot besitzt.»
Er schaute aus dem Fenster und konnte über dem Feld, das sein Lehnsbauer beackerte, die rote Kuppel des Doms sehen. Auf einer niedrigen Umfassungsmauer sonnte sich eine Eidechse. Er hörte das wii-/a-wii-lo eines goldenen Pirols. Eichen und Kastanien, Zypressen und Nusskiefern unterbrachen und ordneten den Blick. In der Ferne, hoch am Himmel, kreiste ein Bussard. Die Schönheit der Natur blieb bestehen, das ließ sich nicht leugnen, doch ihn erinnerte diese bukolische Szene eher an einen Gefängnishof. «Für mich», sagte er Qara Köz, «gibt es leider kein Entkommen.»
Nach diesem Tag schrieb er ihr oft, gab die Briefe aber nie auf, und ehe er starb, sah er die Angebetete nur noch ein einziges Mal. Ago dagegen - Ago, der immer noch die Stadtfreiheit besaß - suchte sie jeden Monat im Palazzo Cocchi del Nero auf, und sie tat ihm den Gefallen, ihn gleich neben dem grand salon im Pirolsaal zu empfangen, so benannt nach den Vogelbildern, die sämtliche mit dichtem Wald bemalten Wände zierten. Den Karren mit dem Wein schickte er zum Lieferanteneingang in der engen Gasse gleich hinter dem Haus, er selbst aber betrat den Palast nicht als Händler. Er legte seine besten Kleider an, das Hofgewand, für das er in letzter Zeit nur noch selten Verwendung fand, und stolzierte wie ein alternder Beau, der seine Liebste besucht, die Via Porta Rossa entlang, das einst gelbe Haar jetzt weiß und schütter an den Kopf geklatscht, Blumen in der Hand. Er wirkte ein wenig lächerlich, das sah er ihren allzu ehrlichen Augen an, doch sie bat ihn um etwas, vertraute ihm ein Geheimnis an. «Wollt Ihr das für mich tun?», fragte sie, und er antwortete: «Wann immer Ihr wollt.» Nur der Spiegel und die Pirole wussten, was sonst noch gesagt worden war. Giuliano de’ Medici starb, Lorenzo de’ Medici wurde als Lorenzo II. Herrscher von Florenz, und die Dinge änderten sich. Drei Jahre lang war von diesen Änderungen allerdings nur wenig zu spüren. Lorenzo brauchte Argalia so dringend, wie ihn sein Onkel gebraucht hatte, denn es war Argalia, der die Männer von Florenz in die Schlacht gegen Francesco Maria führte, jenen Herzog von Urbino, den Leo X. gerade betrog. Als sich die Medici im Exil befanden, hatte Francesco Maria ihnen Zuflucht gewährt, nun aber wandten sich die Medici gegen ihn, um ihm sein Herzogtum zu rauben. Er war ein mächtiger Mann mit einem gut ausgebildeten Heer, weshalb selbst Argalias Janitscharen drei Wochen brauchten, um ihn zu besiegen. Am Ende dann waren neun der kampferprobten osmanischen Krieger tot. Auch d’ Artagnan, einer der vier Schweizer Riesen, befand sich unter den Gefallenen, und das Wehklagen von Otho, Botho und Clotho war schrecklich anzuhören. Anschließend schlug Argalia in den Sümpfen um Ancona die Revolten einiger Barone nieder, die Francesco Maria treu ergeben waren, und spätestens jetzt war Argalia, der Türke, für Lorenzo einfach zu mächtig, um offen gegen ihn vorgehen zu können. Während dieser Zeit übergab Il Machia sein Büchlein Loren-zos Hof. Er sollte nie ein Wort des Dankes, des Lobes, der Kritik hören oder auch nur eine schlichte Empfangsbestätigung bekommen, noch fand man nach Lorenzos Tod ein Exemplar des Buches unter seinen Besitztümern. Kurz machte die Geschichte die Runde, wie verächtlich Lorenzo gelacht haben soll, als ihm das Buch gegeben wurde und er es gleich beiseitewarf. «Der Versager maßt sich an, den Fürsten zu belehren, wie der Fürst erfolgreich sein könne», sagte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. «Ein solches Buch muss ich mir natürlich gleich zu Herzen nehmen.» Kaum war das unterwürfige Gelächter der Höflinge verklungen, sorgte er für eine zweite Welle beflissenen Gejohles. «Eines dürfen wir allerdings mit Gewissheit behaupten. Sollte man den Namen von Niccolo Alraune in Erinnerung behalten, dann gewiss als den eines Komödianten und nicht als eines Philosophen.» Diese Geschichte kam auch Ago zu Ohren, doch war er rück-sichtsvoll genug, sie seinem Freund nicht weiterzuerzählen. Folglich hoffte Niccolo viele Monate lang auf eine Antwort. Als ihm klar wurde, dass er keine bekam, ging es mit ihm noch rascher bergab. Das Büchlein aber legte Il Machia beiseite und sollte es zu seinen Lebzeiten auch nie in Druck geben. Im Frühling des Jahres 1519 machte Lorenzo dann seinen Zug.
Er sandte Argalia aus, die Franzosen durch die Lombardei zu treiben, woraufhin der Türke von Florenz sich mit den Truppen von Francois 1. an mehreren Orten der Provinz Bergamo Scharmützel lieferte. Während seiner Abwesenheit aber richtete Lorenzo auf der Piazza Santa Croce ein großes Turnier aus, ein Ereignis, jenem Turnier zu Ehren von Simonetta Vespucci nachempfunden, auf dem vom älteren Giuliano de’ Medici ein Banner entfaltet worden war, das den Liebreiz von la sans pareille rühmte. Qara Köz wurde gebeten, auf den königlichen Rängen den Ehrenplatz einzunehmen, gleich unter einem blauen, mit goldenen Lilien verzierten Baldachin. Als Lorenzo auf sie zuritt, rollte er ein neues Banner aus, eines, auf dem das von deI Sarto gemalte Antlitz von Qara Köz prangte, doch waren die Worte gleich: la sans pareille. «Ich widme diese Spiele der Schönheitskönigin unserer Stadt, Angelica von Florenz und Cathai», rief Lorenzo. Qara Köz aber verharrte regungslos und weigerte sich, ihm ein Zeichen ihrer Gunst zuzuwerfen, einen Schal oder ein Halstuch, woraufhin die sich dunkel verfärbenden Wangen des Herzogs seine Demü-tigung verrieten, seine Wut. Es gab sechzehn Turnierkämpfer, Soldaten, die zur Bewachung der Stadt zurückgelassen worden waren, und zwei Preise, einen palio aus Goldbrokat sowie einen aus Silber. Der Herzog selbst trat nicht zum Kampf an, sondern setzte sich neben Qara Köz, richtete das Wort aber erst an sie, als die Preise gewonnen waren. Nach den Spielen wurde im Palazzo Medici ein Bankett veranstaltet, bei dem es zuppa pavese als Vorgericht und Pfauen sowie Fasane aus Chiavenna gab, außerdem toskanische Wachteln und Austern aus Venedig. Man servierte Pasta nach arabischer Art mit reichlich Zucker und Zimt, doch mied man aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten des Ehrengastes alle Köstlichkeiten mit Schweinefleisch, so etwa [agioli mit Schweinskruste. Es gab Quittenmarmelade aus Reggio, Marzipan aus Siena und guten Florentiner Märzkäse, cacio marzolino. Berge aus Tomaten bildeten die schönste Tischdekoration. Nach dem Festmahl lauschte man Vorträgen von Dichtern und Intellektuellen zum Thema Liebe, so wie einstmals bei Agathons Fest, von dem uns Plato im Gastmahl berichtet. Lorenzo schloss diesen Teil der Feierlichkeiten, indem er selbst einige Zeilen aus dem Gastmahl zitierte: «Die Liebe erkühnt uns, für den Geliebten zu sterben - die Liebe allein}}, deklamierte er, «Frauen ebenso wie Männer. Dafür ist Alcestis, die Tochter des Pelias, ganz Hellas ein Mahnmal, denn sie war willens, ihr Leben für ihren Mann herzugeben, als niemand sonst dazu bereit war.}} Als er mit einem Plumps wieder auf seinen Platz fiel, fragte ihn Qara Köz, warum er gerade diese Stelle ausgesucht habe. «Warum vom Tode reden», sagte sie, «wo wir doch ein höchst vergnügliches Leben führen?» Lorenzo schockierte sie, als er ihr mit brutaler Offenheit ant-wortete. Er hatte viel getrunken, obwohl allgemein bekannt war, dass er nichts vertrug. «Der Tod, edle Dame, ist nie so weit fort, wie man glaubt}}, sagte er. «Und wer weiß schon, was einem in Kürze abverlangt wird.}} Daraufhin wurde Qara Köz sehr still, denn sie begriff, dass das Schicksal aus dem Mund dieses rüpelhaften Jünglings zu ihr sprach. «Ehe die Blume stirbt}}, sagte er, «vergeht ihr Duft. Und Euer Aroma, edle Dame, hat bereits beträchtlich nachgelassen, nicht wahr.}} Das war keine Frage. «Man redet nur noch selten von Sphärenklängen, die in Eurer Nähe zu hören seien, von wundersamen Heilungen und unverhofften Leibesfrüchten in unfruchtbaren Schößen. Nicht einmal unsere leichtgläubigsten Bürger, nicht einmal die Hungernden, die ihr Brot mit Kräutern essen, damit Halluzinationen sie vom ewigen Magenknurren ablenken, nicht einmal die Bettler, die so oft Verfaultes oder giftige Pflanzen essen, dass sie jeden Abend Dämonen sehen, nicht einmal die reden noch von Euren magischen Kräften. Wo sind Eure Zaubersprüche hin, edle Dame, wohin Eure berauschenden Düfte, die in allen Männern verliebte Gedan-ken wecken? Mir scheint, auch der Zauber der schönsten Frau lässt
- wie soll ich es sagen - mit dem Alter deutlich nach.» Qara Köz war achtundzwanzig Jahre alt, doch litt sie unter einer Mattigkeit, die ihre Ausstrahlung dämpfte, unter einer Angespanntheit, für die auch private Gründe verantwortlich waren, wie Lorenzo zu Recht und mit aller Brutalität feststellte. «Sogar daheim», flüsterte er hämisch, «steht nicht alles zum Besten, stimmt’s? Sechs Jahre zusammen in Florenz, davor auch schon eine Weile, und Ihr habt immer noch kein Kind. Man wundert sich über Eure eigene Unfruchtbarkeit. Arzt, heilt Euch selbst.» Qara Köz wollte aufstehen, doch Lorenzo packte sie fest am Arm und drückte sie zurück auf den Stuhl. «Wie lange wird Euch Euer Beschützer noch beschützen, wenn Ihr ihm keinen Sohn gebärt?», fragte er. «Falls er denn überhaupt lebend aus den Kriegen zurückkehren sollte.»

Im selben Moment begriff sie, dass hier Verrat im Spiel war, dass sich ein Mann unter Argalias Kommando, vielleicht auch eine ganze Gruppe von Männern, bereit erklärt hatte, ihn für eine in Aussicht gestellte Beförderung zu verraten, was nur heißen konnte, dass ihm insgeheim ein Messer zwischen die Rippen gestoßen werden sollte oder aber dass ihm eine öffentliche Hinrichtung drohte. Ein Verrat zog oft einen anderen nach sich. «Ihr werdet ihn niemals töten, solange seine Männer ihn umgeben>, sagte sie leise, nur um im selben Moment das Gesicht des Serben Konstantin wie eine Prophezeiung vor ihren Augen auftauchen zu sehen. «Was habt Ihr ihm versprochen», fragte sie, «dass er sich nach all den Jahren der Freundschaft zu einer solch gemeinen Tat bereit erklärt hat?» Lorenzo beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr. «Alles, was er sich nur vorstellen konnte», lautete die grausame Antwort. Also war sie selbst der Köder gewesen, und Konstantin, der so lange so aufmerksam über sie gewacht hatte, war durch diese Nähe dazu verleitet worden, sich nach noch größerer Nähe zu sehnen, mehr war nicht nötig gewesen. Sie war Argalias Untergang. «Er wird es nicht tun», sagte sie. Lorenzos Griff um ihren Arm verstärkte sich. «Nun, sollte er es doch tun, Prinzessin», sagte er, «heißt das noch lange nicht, dass der Täter auch seine Belohnung bekommt.» Ja, sie begriff. Das war es also, ihr Schicksal. «Nehmen wir nur einmal an, die Männer kehrten aus der Schlacht zurück, ihren toten Kommandanten auf dem Schild», murmelte der Mann an ihrer Seite. «Schreckliche Tra-gödie, gewiss, ein Grab neben den Gräbern der Helden unserer Stadt und mindestens einen Monat offizielle Trauer. Nehmen wir darüber hinaus einmal an, dass man Euch und Eure Dienerin sowie all Eure Habe vor seiner Rückkehr von der Via Porta Rossa zur Via Larga gebracht hätte. Nehmen wir an, Ihr wärt dort als mein Gast, da Ihr Trost in Eurem entsetzlichen Kummer suchtet. Stellt Euch vor, was mit dem Feigling geschähe, der den Helden von Florenz ermordet hat, Euren Geliebten, meinen Freund. Ihr dürft Euch jede erdenkliche Folter ausmalen, die wir anwenden sollen, und ich würde Euch garantieren, dass er am Leben bliebe, bis er alle Qualen bis aufs äußerste genossen hat.» Musik setzte ein. Man bat zum Tanz. Sie sollte eine pavana mit dem Mörder ihrer Hoffnungen tanzen. «Ich muss nachdenken», sagte sie, und er verbeugte sich. «Natürlich», sagte er, «aber denkt rasch, und ehe Ihr nachdenkt, wird man Euch heute Abend in meine Privatgemächer bringen, damit Ihr versteht, worüber Ihr nachzudenken habt.» Sie blieb auf dem Tanzboden stehen und schaute ihn an. «Bitte, edle Dame», schalt er sie und hielt ihre Hand, bis sie sich erneut im Takt bewegte. «Ihr seid eine Prinzessin aus dem königlichen Hause von Tamerlan und Dschingis Khan. Ihr wisst, wie es in der Welt zugeht.»
An jenem Abend kehrte sie mit Spiegel heim, nachdem sie be-wiesen hatte, dass sie wirklich wusste, wie es in der Welt zugeht. «Es wurde getan, was getan werden musste, Angelica», sagte sie. «Machen wir uns nun zum Sterben bereit, Angelica», erwiderte ihr Spiegel. Dies war der Code, auf den sie und die Prinzessin sich vor langem geeinigt hatten, und er bedeutete, dass es Zeit wurde, weiterzuziehen, ein Leben abzustreifen und das nächste zu suchen, den Fluchtplan umzusetzen und zu verschwinden. Damit der Plan funktionierte, würde Spiegel, sobald sich die Stadt zur Ruhe begab, in einem langen Kapuzengewand durch den Lieferanteneingang schlüpfen, durch die schmale Gasse hinter dem Palazzo Cocchi deI Nero laufen und sich ihren Weg in das Viertel Ognissanti und zur Haustür von Ago Vespucci suchen. Doch zu ihrer Überraschung schüttelte Qara Köz den Kopf. «Wir werden nicht gehen», sagte sie, «ehe mein Mann nicht lebend zurückgekehrt ist.» Sie besaß keine Macht über Leben und Tod, und so verließ sie sich nun auf eine Macht, der sie nie zuvor getraut hatte, auf die Macht der Liebe.

Am nächsten Tag führte der Fluss kein Wasser mehr. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich in der Stadt die Nachricht, dass Lo-renzo de’ Medici todkrank sei, und obwohl es niemand laut aussprach, war doch allgemein bekannt, dass er am grässlichen morbo gallico litt, an der Syphilis. Dass der Arno kein Wasser mehr führte, hielt man für ein schlimmes Omen. Lorenzos Ärzte kümmerten sich rund um die Uhr um ihren Herrscher, doch seit die Krankheit zum ersten Mal vor dreiundzwanzig Jahren in Italien aufgetaucht war, hatten schon so viele Florentiner an ihr sterben müssen, dass nur wenige Leute mit einem überleben des Herzogs rechneten. Wie immer lastete die eine Hälfte der Stadt diese Krankheit den französischen Soldaten an, während die andere Hälfte behauptete, die Matrosen des Christoph Kolumbus hätten sie von ihren Reisen mitgebracht, doch hatte Qara Köz für solches Geschwätz nichts übrig. «Das ging schneller, als ich erwartet habe», sagte sie zu Spiegel, «was bedeutet, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein dürfte, bis ein Verdacht auf mich fällt.» Manch einer hätte dies für eine seltsame Bemerkung gehalten, da Qara Köz nicht an Syphilis litt, was eine medizinische Untersuchung unschwer bewiesen hätte, auch sollte sie in ihrem späteren Leben nie an Syphilis erkranken. Tatsache aber war zudem, dass niemand auch nur vermutet hatte, dass sich Lorenzo 11. angesteckt haben könnte, was es besonders unverständlich machte, dass er plötzlich unter dieser Krankheit in ihrer schlimmsten Form litt. Der Fall war also höchst verdächtig, und in solchen Fällen musste rasch ein Verdächtiger - oder doch ein Sündenbock - gefunden werden. Wer weiß, welche Wende die Ereignisse noch genommen hätten, wäre Argalia der Türke nicht lebend heimgekehrt.

In der Nacht vor seiner Rückkehr konnte Qara Köz erst nicht einschlafen, als sie dann aber doch schlief, träumte sie von ihrer Schwester. Auf einem blauen Teppich mit rotgoldenem Rand, in der Mitte ein rotgoldener Diamant, saß Khanzada Begum in einem geräumigen Zeltpavillon aus rotgoldenem Tuch und starrte einen Mann an, den sie nicht kannte, einen Mann in cremefarbenen Seidengewändern mit rosagrünem Schal um die Schultern, auf dem Kopf ein Turban in Blassblau, Weiß und ein wenig Gold. Ich bin dein Bruder Babar, sagte der Fremde. Sie schaute ihm ins Gesicht, konnte ihren Bruder aber nicht erkennen. Das glaube ich nicht, sagte sie. Der Mann wandte sich an einen zweiten Mann, der ein wenig abseits saß. Kukultash, sagte er, wer bin ich? Ihr, antwortete der zweite Mann, seid ebenso gewiss Zahiruddin Muhammad Babar, wie wir hier in Kundus sitzen. Khanzada Begum antwortete: Warum sollte ich ihm mehr als Euch glauben? Ich kenne keinen Kukultash. Bruder und Schwester blieben im Zelt, Dienerinnen warteten ihr auf, während er von Soldaten mit Speeren und Bogen bewacht wurde. Gefühle wurden keine gezeigt. Die Frau kannte ihren Bruder nicht. Sie hatte ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Noch während Qara Köz träumte, begriff sie, dass sie selbst sämtliche Personen ihres Traums war. Sie war ihre Schwester, die, der Familie entrissen, den Weg der Erinnerung und Liebe nicht finden konnte, auf dem ihr eine Rückkehr möglich gewesen wäre. Qara Köz war auch ihr Bruder Babar, der grausam und zugleich so poetisch war, der am selben Nachmittag Männern den Kopf abschlagen und die Schönheit eines bewaldeten Berghanges preisen konnte, der aber kein Land besaß, keinen Flecken Erde, den er sein Eigen nennen konnte, der unaufhörlich durch die Welt zog, um Raum kämpfte, Orte einnahm und wieder verlor, der jetzt im Triumph in Samarkand einmarschierte, jetzt in Kandahar, und gleich darauf wieder vertrieben wurde; Babar, der rannte und rannte, um ein Stückchen Erde zu finden, auf dem er verharren und bleiben konnte. Sie war auch Kukultash, Babars Freund, ebenso die Dienerinnen und die Soldaten, sie schwebte außerhalb ihrer selbst und sah ihrer Geschichte zu, als passierte sie jemand anderem, und sie fühlte nichts, erlaubte sich nicht, etwas zu fühlen. Dann änderte sich der Traum. Baldachin und Zeltkuppel ver-wandelten sich in roten Stein. Was auf Zeit, tragbar, veränderbar gewesen war, wurde plötzlich dauerhaft und unveränderlich. Ein Palast aus Stein auf einem Hügel, und ihr Bruder Babar machte es sich auf einem steinernen Podest inmitten eines rechtwinklig angelegten Wasserbeckens bequem, eines schönen Beckens, dem Besten aller Möglichen Becken. Er war so reich, dass er in großzügiger Laune das Wasser aus dem Becken lassen und es stattdessen mit Gold füllen konnte, auf dass sein Volk kam und sich an seiner Freigebigkeit erfreute. Er war wohlhabend und entspannt, ihm gehörte nicht nur ein Wasserbecken, ihm gehörte ein Königreich. Nur war er nicht Babar. Er war nicht ihr Bruder. Sie erkannte ihn nicht. Dieser Mann war ihr fremd.
«Ich habe die Zukunft gesehen, Angelica,,, erzählte sie Spiegel nach dem Aufwachen. «Die Zukunft ist in Stein gesetzt und der Nachkomme meines Bruders ein beispiellos mächtiger Herrscher. Wir sind Wasser, wir können uns in Luft auflösen und wie Rauch verschwinden, doch die Zukunft ist Reichtum und Stein.» Sie wollte auf das Eintreffen der Zukunft warten. Und dann würde sie ihr altes Leben wiederaufnehmen, sich damit vereinen und wieder ganz sie selbst werden. Sie wollte es besser machen als Khanzada. Sie würde den König erkennen.

In ihrem Traum war eine Frau vorgekommen, die nur von hin-ten zu sehen gewesen war, eine Frau mit langem, gelbem, offen auf die Schultern fallendem Haar, die vor dem Herrscher saß, redete und ein langes Gewand aus bunten Lederflicken trug. Außerdem befand sich im Gebäude noch eine weitere Frau, die nie das Sonnenlicht sah, die wie ein Schatten durch die Palastkorridore wandelte und deren Bild mal schwächer wurde, mal stärker, dann wieder schwächer. Dieser Teil des Traumes blieb ihr unklar.
Qara Köz kannte sich aus mit dem Unterdrücken von Gefühlen. Seit sie in die Privatgemächer von Lorenzo II. gebracht worden war, hatte sie sich keine Gefühle mehr erlaubt. Er hatte getan, was er tun wollte, und sie hatte ebenso kaltblütig ihre Absicht in die Tat umgesetzt. Nach ihrer Rückkehr in den Palazzo Cocchi del Nero blieb sie ruhig und gefasst, während Spiegel aufgeregt hin und her huschte, um einige cassoni zu packen, jene großen Truhen, in denen Frauen gewöhnlich ihre Aussteuer verwahrten. Sie wollte alles für eine rasche Abreise vorbereiten, auch wenn ihre Herrin offenbar fest entschlossen war zu bleiben. Qara Köz wartete im grand salon am offenen Fenster und ließ sich von einer leichten Brise das Stadtgeschwätz zutragen. Es dauerte nicht lange, bis sie jenes Wort vernahm, von dem sie gewusst hatte, dass es ihr zu Ohren kommen würde, das Wort, das es für sie zu unsicher machte, noch länger zu bleiben. Dennoch dachte sie nicht an Aufbruch. Hexe. Sie hat ihn verhext. Er lag bei der Hexe, wurde krank und starb.

Vorher ist er nicht krank gewesen. Hexerei. Sie hat ihn mit des Teufels Krankheit angesteckt. Hexe. Hexe. Hexe. Lorenzo II. war schon tot, als die Miliz von ihrem Sieg bei Cisano Bergamasco zurückkehrte, ordentlich in Reih und Glied trotz der Bestürzung, für die der mitten in der Schlacht unternommene Mordversuch des Serben Konstantin an General Argalia, ihrem gran condottiere, unter den Soldaten gesorgt hatte. Gemeinsam mit sechs weiteren Janitscharen, bewaffnet mit Luntenschlossflinten, Piken und Schwertern, hatte Konstantin feige von hinten angegriffen. Die erste Kugel traf Argalia in die Schulter und warf ihn aus dem Sattel, was ihm das Leben rettete, da der Kommandant am Boden von Pferden umringt war und die Verräter nicht zu ihm vordringen konnten. Die drei Schweizer Riesen kehrten sich von dem Feind vor ihnen ab, um sich den Verrätern in ihrem Rücken zuzuwenden, und nach heftigem Nahkampf wurde die Rebellion niedergeschlagen. Der Serbe Konstantin war tot, eine Schweizer Pike steckte in seinem Herzen, doch Botho hatte ebenfalls das Leben verloren. Bei Nachteinbruch war die Schlacht gegen die Franzosen gewonnen, aber der Sieg bereitete Argalia keine Freude. Von seiner ursprünglichen Mannschaft lebten nur noch siebzig Mann. Als sie sich der Stadt näherten, sahen sie überall Flammen auflodern wie damals am Tag der Papstwahl, und Argalia schickte einen Reiter voraus, der Näheres in Erfahrung bringen sollte. Bei seiner Rückkehr meldete der Kundschafter, dass der Herzog gestorben sei und die führerlosen Bürger Qara Köz vorwarfen, sie habe ihren Herrscher mit einem mächtigen Zauber verhext, der seinen Leib wie ein hungriges Tier zerfressen habe, angefangen bei den Genitalien und von dort aus sich in alle Richtungen ausbreitend. Argalia wies Otho an, einen der beiden noch lebenden, untröstlichen Schweizer Brüder, die Miliz im Eilschritt zurück in die Kasernen zu führen. Darauf sammelte er Clotho und die verbliebenen Janitscharen um sich, achtete nicht weiter auf seinen verwundeten rechten Arm und galoppierte davon wie der Wind. Und es wehte ein mächtiger Wind in dieser Nacht! Sie sahen, wie er Olivenbäume ausriss, wie er Eichen beiseitefegte, als wären sie kleine Schösslinge, wie er Walnussbäume, Kirschbäume und Erlen entwurzelte, sodass die Männer meinten, um sie herum flöge ein Wald durch die Luft, während sie im Galopp dahinpreschten; und als sie sich der Stadt näherten, hörten sie einen großen Tumult, wie ihn nur das Volk von Florenz zu veranstalten weiß. Doch dies war kein Freudentumult, vielmehr schien es, als hätte sich jeder Bewohner der Stadt in einen Werwolf verwandelt und heulte nun den Mond an.

Was für ein kurzer Weg von Zauberin zu Hexe. Gestern noch war sie die inoffizielle Schutzheilige der Stadt gewesen, jetzt sam-melte sich der Mob vor ihrem Haus. «Die Hintertür steht noch offen, Angelica», sagte der Spiegel. «Wir warten, Angelica», erwiderte Qara Köz. Sie saß auf einem Stuhl an einem Fenster des grand salon und sah seitwärts hinaus, sah, ohne gesehen werden zu können. Unsichtbarkeit war ihr Los. Sie blieb gefasst. Dann hörte sie Hufschläge und erhob sich. «Er ist da.» Und das war er auch.

Vor dem Palast Cocchi deI Nero verbreiterte sich die Via Porta Rossa zu einem kleinen Platz, an dem auch der Palazzo Davizzi und die Wohntürme der Foresi standen. Als Argalia mit den Janitscharen den Platz erreichte, drohte sie die dichtgedrängte Menge der Hexenjäger aufzuhalten, doch waren sie wild entschlossen und schwer bewaffnet, weshalb man sie schließlich durchließ. Kaum hatten die Reiter den Palast erreicht, räumten die Janitscharen den Eingang frei und öffneten, sobald es sicher war, die Türen. Eine Stimme aus der Menge brüllte: «Warum beschützt Ihr die Hexe?» Argalia ignorierte den Ruf. Dann ertönte dieselbe Stimme erneut: «Wem dient Ihr, condottiere, dem Volk oder Eurer Lust? Dient Ihr der Stadt und ihrem verhexten Herzog, oder steht Ihr im Bann der Vettel, die ihn verhext hat?» Argalia riss sein Pferd herum und blickte über die Menge. «Ich diene ihr», rief er, «das habe ich immer getan und werde es immer tun.» Dann ritt er mit ungefähr dreißig Mann auf den Hof des Palastes und überließ es Clotho, sich um das Geschehen vor dem Haus zu kümmern. Die Reiter hielten am Brunnen mitten im Hof, und der zuvor so stille Palast war plötzlich mit Lärm erfüllt, dem Wiehern der Pferde, dem Klirren der Waffen und dem Gebrüll der Männer, die sich Befehle zuriefen. Die Bediensteten stürzten nach draußen, um Reitern und Rössern eine Stärkung anzubieten. Und wie• eine Frau, die aus dem Schlaf erwacht, begriff auch Qara Köz plötzlich, in welcher Gefahr sie schwebte. Sie stand oben auf der Treppe, die in den Hof hinabführte; Argalia stand unten und schaute zu ihr auf, seine Haut weiß wie der Tod.
«Ich wusste, dass Ihr lebt», sagte sie, erwähnte aber mit keinem Wort seinen verletzten Arm.

«Und Ihr müsst auch leben», sagte er. «Die Menschenmenge wird immer größer.» Er sagte nichts von der Wunde in seiner rechten Schulter, auch nichts von den Flammen, die von dort durch seinen ganzen Körper loderten. Er sagte nichts davon, wie heftig sein Herz hämmerte, als er sie anschaute. Nach dem langen Ritt war er außer Atem. Seine weiße Haut fühlte sich heiß an. Er sprach das Wort «Liebe» nicht aus. Zum letzten Mal in seinem Leben fragte er sich, ob er seine Liebe nicht an eine Frau verschwendete, die ihre Liebe nur schenkte, bis es Zeit wurde, sie zurückzunehmen. Er schob den Gedanken beiseite. Er hatte dieses eine Mal in seinem Leben sein Herz hingegeben und fand, es sei ein Segen, dass ihm diese Gelegenheit gewährt worden war. Die Frage, ob sie seiner Liebe würdig war, hatte keinerlei Bedeutung. Sein Herz hatte diese Frage schon vor langer Zeit beantwortet.
«Ihr werdet mich beschützen», sagte sie.
«Mit meinem Leben», antwortete er und begann, ein wenig zu zittern. Als er auf dem Schlachtfeld von Cisano Bergamasco zu Boden stürzte, folgte dem Kummer über den Verrat des Serben Konstantin rasch die Einsicht in die eigene Dummheit. Konstantin hatte ihn erwischt, genau wie er in der Schlacht von Chaldiran einst Schah Ismail von Persien erwischt hatte. Der Schwertkämpfer würde stets dem Mann mit dem Gewehr unterliegen. Im Zeitalter der Luntenschlossflinte und der leichten, transportablen Feldkanone gab es keinen Platz mehr für Ritter in Rüstungen. Er gehörte der Vergangenheit an. Er hatte diese Kugel verdient, so wie es die Alten verdienten, von den Jungen beseitigt zu werden. Ihm war ein wenig schwindlig.
«Ich konnte nicht gehen», sagte sie, und ihrer Stimme war ein wenig Überraschung anzumerken, so als hätte sie etwas Außergewöhnliches über sich erfahren.
«Aber jetzt müsst Ihr gehen», erwiderte er ein wenig keuchend.

Sie gingen nicht aufeinander zu. Sie umarmten sich nicht. Qara Köz trat auf Spiegel zu.
«Nun, Angelica, sollten wir uns zum Sterben bereit machen», sagte sie.

Die Nacht stand in Flammen. Überall loderten Feuer in den leuchtenden Himmel auf. Dicht über dem Horizont hing ein voller Mond, rot getönt, riesig groß. Wie Gottes kaltes, irres Auge blickte er herab. Der Herzog war tot, und allein das Gerücht regierte. Dem Gerücht zufolge hatte der Papst «Angelica» zur mordlüsternen Hure erklärt; er sandte einen Kardinal aus, der das Kommando übernehmen und dieser rasenden Hexe Einhalt gebieten sollte. Noch war die Erinnerung daran nicht verblasst, wie die drei Anführer der Jammerer - Girolamo Savonarola, Domenico Buonvicini und Silvestro Maruffi - auf der Piazza della Signoria verbrannt worden waren, und es gab den ein oder anderen in der Menge, der es kaum erwarten konnte, den Gestank brennenden Weiberfleisches zu riechen. Doch Ungeduld gehört zur Natur des Mobs. Gegen Mitternacht hatte sich die Menschenmenge verdreifacht, und die Stimmung wurde gewalttätig. Steine flogen auf den Palast Cocchi del Nero. Zwar hielt die Phalanx der Janitscharen unter Führung des Schweizers Clotho noch das Tor, doch sogar Janitscharen werden müde, und manch einer von ihnen musste sich um seine Wunden kümmern. In den frühen Morgenstunden dann erreichten den tobenden Mob fatale Neuigkeiten. Angestachelt von unbestätigten Berichten über den päpstlichen Erlass wider die Hexe Angelica, schloss sich die florentinische Miliz den aufgebrachten Massen an und marschierte in voller Bewaffnung zur Via Porta Rossa. Als Clotho dies hörte, wusste er, dass jetzt all seine drei Brüder tot waren, folglich sagte er sich, er sei nun bereit, die Dinge zu ihrem Ende zu bringen.
«Für die Schweizer», rief er und stürzte sich mit aller Macht auf die Menge, schwang in der einen Hand ein Schwert, in der anderen eine mit eisernen Dornen bestückte Kugel an einer Kette. Seine Janitscharen sahen ihm erstaunt nach, da die Menschen in der Menge kaum Gefährlicheres mit sich führten als Stöcke und Steine, doch Clotho war nicht aufzuhalten. Die Mordlust hatte ihn gepackt. Menschen stürzten unter die Hufe seines Pferdes und wurden zu Tode getrampelt. Die Menge war außer sich vor Wut und Angst, und anfangs wichen alle vor dem irren AlbinoRiesen auf seinem Pferd zurück. Dann folgte ein seltsamer Augenblick, ein Augenblick jener Art, wie er das Schicksal von Nationen bestimmt, denn wenn eine Menge die Angst vor einer Armee verliert, ändert sich die Welt. Mit einem Mal wich niemand mehr zurück, und im selben Moment wusste Clotho, der auf seinem Pferd gerade das Schwert zum Schlag erhoben hatte, dass es um ihn geschehen war. «Janitscharen zu mir», brüllte er, doch da brandete die Menge wie eine Flut heran, tausend und abertausend kreischende Stimmen, grabschende Hände und hämmernde Fäuste, ein Steinregen ging auf die Soldaten nieder, Männer sprangen sie wie Katzen an, zerrten sie vom Pferd, starben unter den Hieben der Krieger, andere drängten dennoch weiter vor, krallten sich fest, zogen, klammerten, rissen, bis sie alle Soldaten von ihren Pferden geholt hatten, doch immer weiter voran trampelte die Menge, die erdrückende Macht der angeschwollenen, anschwellenden Menge, und die ganze Welt war Blut.
Noch ehe die Miliz eintraf und die Menge sich wie ein Meer teilte, um die bewaffneten Männer durchzulassen, gab es vor dem Palazzo Cocchi del Nero keine Janitscharen mehr; und mit den Äxten der gefallenen Krieger hieb die Menge auf die drei großen Holztore des Palastes ein. Im Hof hinter diesen Toren stiegen Argalia, der Türke, und die ihm verbliebenen Kämpen in voller Kriegsrüstung auf ihre Pferde, um zum letzten Gefecht anzutreten. Es gibt keine größere Schande, als durch die Hand jener Männer zu sterben, die man im Krieg angeführt hat, dachte Argalia, aber wenigstens sterben meine ältesten Gefährten an meiner Seite, und darin liegt doch auch ein wenig Ehre. Dann vergaß er alle Fragen der Schande und Ehre, da Qara Köz aufbrach und es Zeit für letzte Worte wurde.
«Zum Glück ist der Mob nicht besonders schlau», sagte sie, «sonst hätten Ago und Spiegel nicht durch die Hintertür auf die Gasse entweichen können. Und es ist ein Glück, dass ich auf den Rat Eures Freundes Niccolo gehört habe, denn sonst gäbe es keinen Plan, und niemand würde mit leeren Weinfässern auf uns warten, in denen wir uns verstecken können, niemand hätte ei-nen Wagen und frische Pferde besorgt, um uns fortzubringen.» «Am Anfang waren drei Freunde», sagte Argalia, der Türke, «Antonio Argalia, Niccolo <Il Machia> und Ago Vespucci. Und auch am Ende waren es drei. Il Machia wartet mit noch schnelleren Pferden auf Euch. Geht jetzt.» Das Fieber hatte ihn gepackt, der Wundschmerz war groß. Er begann zu zittern. Das Ende war nicht mehr weit. Es würde ihm schwerfallen, noch lange im Sattel zu bleiben.
Sie schwieg einen Moment. «Ich liebe dich», sagte sie dann.
Stirb für mich.

«Und ich liebe dich», antwortete er. Ich sterbe schon, aber ich sterbe für dich.

 

«Ich liebe dich, wie ich noch keinen Mann geliebt habe», sagte sie. Stirb für mich.

«Du bist die Liebe meines Lebens», erwiderte er. Mein Leben ist fast vorbei, doch was mir bleibt, opfere ich dir. «Lass mich bleiben», sagte sie. «Gib mich auf. Dann hat dies ein Ende.» Wieder war ihrer Stimme ein wenig Überraschung über das anzuhören, was sie ihm zu sagen, anzubieten und zu fühlen erlaubte.
«Dafür ist es zu spät.»
Der letzte Kampf der Unbesiegbaren von Florenz, ihre end-gültige Niederlage und Vernichtung im Aufstand der Via Porta Rossa, fand im Hof jenes Hauses statt, das danach nur noch der Blutige Palast genannt wurde. Als die Schlacht zu Ende ging, waren die Hexe und ihre Dienerin längst fort, und kaum entdeckte das Volk von Florenz ihre Flucht, schien seine Wut sich in Luft aufzulösen; wie Menschen, die aus einem schrecklichen Traum erwachen, verloren sie jegliches Verlangen nach Mord und Tod. Sie kamen zu sich und waren kein Mob mehr, sondern wieder eine Ansammlung souveräner Individuen, die nun brummelnd zu-rück in ihre Häuser gingen, betreten dreinsahen und sich wünschten, sie hätten kein Blut an den Händen. «Wenn sie geflohen ist», sagte jemand, «dann fort mit ihr und Schwamm drüber.» Man traf keine Anstalten, sie zu verfolgen. Man empfand nur Scham. Als der Regent des Papstes in Florenz eintraf, war der Palazzo Cocchi deI Nero verriegelt und verrammelt und mit dem Siegel der Stadt versehen; länger als hundert Jahre sollte niemand mehr dort wohnen. Und in dem Moment, als Argalia, der Türke, fiel, niedergestreckt durch die Septhämie, die sich in seinem Körper ausbreitete und ihn das Bewusstsein verlieren ließ, als ihm die schändliche Pike eines Milizsoldaten in den Hals fuhr, während er dem Wundbrand erlag, fand das Zeitalter der großen condottieri ein Ende.
Wie von einer Hexe verflucht, führte der Arno ein Jahr und einen Tag kein Wasser.

«Sie hatte kein Kind», stellte der Herrscher fest. «Was sagt Ihr dazu?» «Es geht ja noch weiter», erwiderte der andere.
Als die Morgendämmerung anbrach, sah Niccolo seinen Freund Ago in der Ferne, sah ihn einen Karren mit zwei geladenen Weinfässern lenken und gab den Plan auf, Drosseln fangen zu wollen. Er setzte die Vogelkäfige ab und ging selbst, die Pferde zu satteln. Eigentlich konnte er es sich nicht leisten, zwei Pferde zu verschenken, aber er würde sie trotzdem hergeben, und dies ohne Bedauern. Vielleicht würde man ihn so in Erinnerung behalten als den Mann, der einer Mogulin half, ihren Verfolgern zu entkommen, einer Prinzessin aus dem königlichen Hause von Tamerlan und Dshingis Khan, einst Zauberin von Florenz. Er rief nach oben zu seiner Frau, sie solle auf der Stelle etwas zu essen vorbereiten, Wein holen und mehr einpacken, als man für eine Reise benötige; und sie, die aus dem Klang seiner Stimme die Not heraushörte, sprang aus dem Bett, tat wie ihr geheißen und beschwerte sich nicht, obwohl es nicht sonderlich angenehm war, aus ungewöhnlich tiefem Schlaf geweckt zu werden und barsche Befehle befolgen zu müssen. Dann hielt Ago vor Machiavellis Haus, atemlos, verängstigt. Argalia war nicht bei ihm. Wortlos fragten Il Machias Augenbrauen, doch Ago Vespucci fuhr sich nur mit einem Finger über die Kehle und brach dann vor lauter Furcht, Aufregung und Trauer in Tränen aus. «Jetzt mach endlich die Fässer auf, Herrgott nochmal», rief Marietta Corsini, sobald sie aus der Tür kam. «Die müssen da drinnen ja halb zu Tode gerüttelt worden sein.»

Ago hatte die Fässer mit Polstern und Kissen ausgestopft, an den Seiten mit Scharnieren versehene Klappen angebracht und kleine Luftlöcher gebohrt, doch tauchten die beiden Frauen trotz seiner Mühen arg gebeutelt aus ihrem Versteck auf, schmerzverzerrt und außer Atem. Dankbar nahmen sie einen Schluck Wasser an, wollten aber nichts essen, da die Reise nicht ohne Wirkung auf ihre Mägen geblieben war. Ohne weitere Umstände baten sie gleich um ein Zimmer, in dem sie sich umziehen konnten, und Marietta führte sie ins Schlafgemach. Spiegel folgte Qara Köz, eine Tasche in der Hand, und als die beiden Frauen eine halbe Stunde später wieder auftauchten, sahen sie wie Männer aus, trugen kurze Jacken - eine rotgoldene für Qara Köz, eine grünweiße für Spiegel-, wollene Reithosen, Stiefel aus Sämischleder und ei-nen Gürtel um die Hüfte. Das Haar hatten sie sich kurz geschnitten und unter eng ansitzenden Scheitelkäppchen verborgen. Marietta schnappte nach Luft, als sie ihre Beine in engen Hosen sah, sagte aber nichts. «Wollt Ihr nicht ein wenig essen, ehe Ihr weiterreist?», fragte sie, doch sie wollten nicht. Man dankte ihr für den Beutel mit Brot, Käse und kaltem Fleisch, den sie vorbereitet hatte. Dann gingen sie alle nach draußen, wo Il Machia und Ago warteten. Ago hockte immer noch auf seinem Karren. Die Fässer waren abgeladen worden, doch standen die beiden Truhen mit der Habe der Damen noch auf der Ladefläche sowie eine Tasche mit Agos Kleidern und allem Geld, das er hatte auftreiben können, darunter auch einige Zahlungsanweisungen über größere Summen. «Wenn wir erst in Genua sind, kann ich noch mehr besorgen», sagte er. «Ich habe einige Wechsel dabei.» Er schaute Qara Köz in die Augen. «Ihr Damen könnt schließlich nicht allein reisen», sagte er. Mit großen Augen schaute sie ihn daraufhin an. «Aha», erwiderte sie, «als Ihr um Hilfe gebeten wurdet und gesehen habt, in welch prekärer Lage wir uns befanden, wart Ihr also auf der Stelle bereit, Euer Haus, Eure Arbeit und Euer Leben hinter Euch zu lassen, um mit uns in eine unbekannte Zukunft zu fliehen, mit einer Gefahr hinter Euch und womöglich vielen neuen Gefahren vor Euch?» Ago Vespucci nickte. «Ja, das war ich.» Sie ging zu ihm und ergriff seine Hände. «Dann, mein Herr», sagte sie, «gehören wir jetzt zu Euch.»
Il Machia sagte seinem alten Gefährten Lebewohl. «Am An-fang waren drei Freunde», erklärte er, «Antonino Argalia, Niccola Il Machia und Ago Vespucci. Zwei der drei reisten gern, der dritte blieb lieber daheim. Und von den zwei Reisenden ist nun einer auf immer davon gegangen, der andere aber wird nie mehr fortgehen. Mein Horizont ist geschrumpft, ich kann nur noch Enden schreiben. Doch du, geliebter Ago, du, der Sesshafte, du brichst auf, um eine neue Welt zu suchen.» Dann streckte er den Arm aus und drückte Ago drei soldi in die Hand. «Die schulde ich dir noch», sagte er. Als einige Minuten später zwei Reiter und der Mann auf dem Karren um eine Wegbiegung verschwanden, küsste die frühe Morgensonne Ago Vespuccis Haar, das schon so schütter war, so weiß. Doch im gelben Licht der Frühe schien es, als habe er wieder das goldene Haar seiner Jugend, in der er mit n Machia im Eichenhain von Caffagio auf Jagd gegangen war, im Gehölz der vallata von Santa Maria dell’Impruneta, aber auch in dem etwas weiter entfernt gelegenen Wald bei der Burg Bibione, damals, als sie gehofft hatten, eine Alraune zu finden.

19. Er sei ein Nachfahre Adams, nicht Mohammeds…

Er sei ein Nachfahre Adams, nicht Mohammeds und nicht des Kalifen, sagte Abul Fazl; Legitimität und Autorität ergäben sich aus seiner Abstammung vom ersten Menschen, ih-rer aller Vater. Kein Glaube sei ihm genug, auch kein geographisches Gebiet. Größer als der König der Könige, der über Persien herrschte, ehe die Muslime kamen, überlegen der alten Hinduvorstellung von Chakravartin - jenem König, dessen Streitwagen überallhin zu rollen vermochte, dessen Bewegungen durch nichts behindert wurden -, sei er der Herrscher des Universums, König einer Welt ohne Grenzen oder ideologische Beschränkungen. Woraus folgerte, dass die menschliche Natur und nicht der göttliche Wille die treibende Kraft der Geschichte sei. Er, Akbar, sei der vollkommene Mensch, die Antriebskraft der Zeit.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Herrscher bereits auf den Beinen. Das im Schatten liegende Sikri schien die großen Mysterien des Lebens darzustellen. Ihm kam die Stadt wie eine flüchtige Welt voller Fragen vor, auf die er eine Antwort finden musste. Dies war die der Meditation vorbehaltene Stunde des Tages. Er betete nicht. Hin und wieder ging er in die große Moschee, die er rund um Chishtis Schrein hatte errichten lassen, um den Schein zu wahren und das Gerede spitzer Zungen verstummen zu lassen. Badaunis Zunge. Die Zunge des Kronprinzen, der noch weniger an Gott glaubte als sein Vater, sich aber ihm zum Trotz mit den Frömmlern verbündete. Meist jedoch nutzte der Herrscher diese frühe Stunde, ehe die Sonne die Steine Sikris und die Gemüter ihrer Bewohner erhitzte, um über die hohen Dinge nachzudenken, nicht über so banale Ärgernisse wie Prinz Salim. Er meditierte erneut gegen Mittag sowie am Abend und um Mitternacht, doch die Meditation in der Frühe gefiel ihm am besten. Musiker kamen, um im Hintergrund leise religiöse Hymnen zu spielen, aber oft scheuchte er sie fort und ließ sich von der Stille umschmeicheln, einer Stille, die nur zur Dämmerung vom Singen der Vögel unterbrochen wurde.
Manchmal - denn er war ein Mann mit vielerlei Gelüsten
-wurden seine hehren Betrachtungen von Frauenbildern ge-stört: Bildern von tanzenden Mädchen, von Konkubinen, sogar von seinen königlichen Gattinnen. Früher hatten ihn meist Gedanken an Jodha abgelenkt, an seine imaginäre Königin, ihre scharfe Zunge, ihre Schönheit, ihr sexuelles Geschick. Er war kein vollkommener Mensch, davon war er zutiefst überzeugt, doch hatte er sie lange für die vollkommene Frau gehalten. Gefährtin, Vertraute, im Bett eine Wildkatze, kein Mann konnte sich mehr wünschen. Sie war sein Meisterwerk, zumindest hatte er das geglaubt, ein Fleisch gewordener Traum, eine Reisende aus der Welt khaya~ der Phantasie, die er über die Grenze in die Wirklichkeit gebracht hatte. In letzter Zeit jedoch änderten sich die Dinge. Jodha besaß nicht mehr die Macht, ihn in seinen Betrachtungen zu stören. Statt ihrer suchte ihn eine andere Frau auf. Qara Köz, Dame Schwarzauge, die verschwiegene Prinzessin: Lange weigerte er sich, sie wahrzunehmen, weigerte sich zu verstehen, in welche Richtung sein Herz gezogen wurde, denn es führte ihn zu etwas Unmöglichem, einer Leidenschaft, die niemals Erfüllung finden konnte, die - in jeder Hinsicht dieses Wortes - unschicklich war. Ihn verlangte es nach den Tönen der Zu-kunft, sie aber war ein Echo ferner Vergangenheit. Vielleicht war es das, was ihn verlockte, ihre nostalgische Schwerkraft, doch sollte dies tatsächlich der Fall sein, war sie wahrlich eine gefährliche Zauberin, die ihn zurück ins Gestrige zog und folglich auch in jeder anderen Hinsicht zurückwarf, in seinem Denken, seinem Glauben, seiner Hoffnung. Sie wäre schlecht für ihn. Sie würde ihn ins Delirium einer un-möglichen Liebe locken, und stand er erst einmal in ihrem Bann, würde er sich abwenden von der Welt der Gesetze und der Tat, der Majestät und des Schicksals. Vielleicht war sie in genau dieser Absicht ausgesandt worden, und Niccolo Vespucci war ein Feind die Königinmutter Hamida Bano hing dieser Theorie an -, ein Agent der christlichen Fremdwelt, aus der er schließlich stammte, ein Attentäter mit dem Auftrag, ihn zu vernichten, indem er dieses unzüchtige Weib in seine Gedanken pflanzte, diese entwurzelte Überläuferin. Niemand vermochte Sikri durch Waffengewalt einzunehmen, doch die verschwiegene Prinzessin könnte ihn womöglich von innen heraus besiegen. Sie war schlecht für ihn. Und doch war sie es, die immer häufiger zu ihm kam, und es gab Dinge, die sie verstand, Jodha aber nie begriffen hatte. Zum Beispiel verstand sie Stille. Wenn die verschwiegene Prinzessin zu ihm kam, sagte sie kein Wort. Es war nicht ihre Art, ihn zu schelten oder zu necken. Sie redete nicht, kicherte nicht, sang nicht. Sie brachte den Duft von Jasmin mit sich und setzte sich einfach neben ihn, ohne ihn zu berühren, und sie sah den Tag beginnen, bis der östliche Horizont sich rot ränderte und eine liebliche Brise aufkam. Im selben Moment wurden sie eins, vereinte er sich mit ihr, wie er sich nie zuvor mit einer Frau vereint hatte; danach erhob sie sich mit unendlichem Taktgefühl und ging, während er allein auf die erste, liebevolle Berührung der Dämmerung wartete.

Nein, sie war nicht schlecht für ihn, und er würde jedem wi-dersprechen, der anderes behauptete. Er konnte an ihr kein Übel erkennen, auch nicht an dem Mann, der sie zu ihm brachte. Wie könnte ein solch abenteuerlicher Geist verdammt sein? Qara Köz war eine Frau, wie er sie nie zuvor kennengelernt hatte, eine Frau, die ihr eigenes Leben ohne Rücksicht auf Konventionen formte, allein durch die Kraft ihres Willens, eine Frau wie eine Königin. Dies war sein neuer Traum, eine ungeträumte Vision dessen, wie eine Frau sein konnte. Was er sah, erschreckte ihn, erregte ihn, berauschte ihn und nahm ihn gefangen. Ja, Qara Köz war außergewöhnlich, und das, davon zeigte sich der Herrscher überzeugt, war auch Vespucci oder Mogor dell’Amore. Der Herrscher hatte ihn auf die Probe gestellt und große Vorzüge entdeckt. Er war kein Feind, er war sein Günstling. Er verdiente es, gelobt und nicht getadelt zu werden.
Akbar zwang seine Gedanken wieder in angemessene Bahnen.
Er war kein vollkommener Mensch, das war nur die Behauptung eines Schmeichlers, und Abul Fazls Schmeicheleien führten ihn in ebendas, was Mogor dell’Amore die Sümpfe der Paradoxa genannt hatte. Einen Menschen zu gottgleichem Status zu erheben und ihm absolute Macht zu verleihen, zugleich aber zu behaupten, dass der Mensch und nicht Gott sein Schicksal lenke, barg einen Widerspruch, der keiner näheren Betrachtung standhielt. Außerdem umgaben ihn auf allen Seiten Hinweise darauf, wie sehr sich die Religion in menschliche Angelegenheiten ein-mischte. Er hatte den Selbstmord der Engelsstimmen Tana und Riri nicht vergessen können, die lieber gestorben waren, als ihren Glauben zu kompromittieren. Ihm lag nichts daran, göttlich zu sein. Hätte es nie einen Gott gegeben, dachte der Herrscher, ließe sich vermutlich leichter sagen, was es hieß, gut zu sein. Diese Sache mit der Anbetung, der Selbstverleugnung im Angesicht des Allmächtigen, war eine Verirrung, eine falsche Fährte. Was auch immer es bedeuten mochte, gut zu sein, so hatte es doch gewiss nichts mit ritualisiertem, gedankenlosem Gehorsam gegenüber einer Gottheit zu tun, mehr dagegen schon mit dem langsamen, umständlichen, von Irrtümern behafteten Aufspüren eines individuellen oder kollektiven Weges .

Wieder verhedderte er sich sofort in Widersprüche. Ihm lag nichts daran, göttlich zu sein, doch glaubte er an die Gerechtigkeit der Macht, seiner absoluten Macht, und angesichts dieses Glaubens musste jene seltsame Idee von der Rechtschaffenheit des Ungehorsams, die ihm irgendwie in den Sinn gekommen war, geradezu als aufrührerisch gelten. Dank seiner Eroberungen besaß er Macht über das Leben der Menschen. Die unausweichliche Schlussfolgerung, zu der jeder realistisch gesinnte Fürst gelangen musste, lautete, dass Macht gerecht war, und bei allem Übrigen, dieser endlosen Meditation über die Tugend zum Beispiel, konnte es sich nur um schmückendes Beiwerk handeln. Der Sieger war der Mann der Tugend, mehr brauchte dazu nicht gesagt zu werden. Natürlich gab es Differenzen, es kam zu Exe-kutionen, zu Selbstmorden, doch ließ sich jeder Widerstand bezwingen, und es war seine Faust, die ihn bezwang. Was aber hatte es dann mit jener Stimme auf sich, die ihm Morgen für Morgen von Harmonie zuflüsterte, nicht von der Alle-Menschen-sindeins-Quacksalberei der Mystiker, sondern von dieser seltsamen Idee, dass Unstimmigkeit, Ungehorsam, Differenz und Widerspruch, Respektlosigkeit, Bilderstürmerei und Anmaßung, gar Unverschämtheit der Quell alles Guten sein könnten? Solche Gedanken geziemten sich nicht für einen König.
Er dachte an die fernen Herzöge aus der Geschichte des Fremdlings. Sie behaupteten ebenfalls nicht, göttlichen Anspruch auf ihr Land zu haben, nur den Anspruch des Siegers. Und auch ihre Philosophen sahen den Menschen im Mittelpunkt seiner Zeit, seiner Stadt, seines Lebens, seiner Kirche, nur führten sie die Menschlichkeit des Menschen törichterweise auf Gott zurück und verlangten in dieser Angelegenheit, der höheren Angelegenheit des Menschen, göttliche Sanktion, obwohl sie in den niederen Angelegenheiten der Macht zugleich von der Notwendigkeit einer solchen Sanktion absahen. Wie verwirrt sie doch waren und wie unbedeutend, herrschten gerade mal über eine Stadt in der Toskana, vielleicht noch über ein römisches Bistum, dabei nahmen sie sich so wichtig. Er war der Herrscher über das grenzenlose Universum, und für ihn lagen die Dinge natürlich klarer. Nein, korrigierte er sich, das taten sie nicht, und er gab sich bloßer Bigotterie hin, wollte er anderes behaupten. Mogor hatte recht. Es ist nicht der Fluch der menschlichen Rasse, dass wir uns so sehr voneinander unterscheiden, sondern dass wir uns so ähnlich sind.
Tageslicht ergoss sich über die Teppiche, und er stand auf.
Es wurde Zeit, sich am jharokha-Fenster zu zeigen und die Hul-digung der Menge entgegenzunehmen. Das Volk war heute in Festtagslaune - auch dies hatte es mit der Bevölkerung jener anderen Stadt gemein, durch deren Straßen er in seinen Träumen wanderte, dieses Talent zum Feiern ~, denn heute war der Sonnengeburtstag ihres Herrschers, der fünfzehnte Oktober, und seine Majestät würde sich wiegen lassen, zwölf Mal insgesamt, so in Gold, Seide, Parfüm, Kupfer, geseihter Butter, Eisen, Kom und Salz, und die Frauen seines Harems spendeten jedem Haushalt einen Anteil von diesem Überfluss. Die Viehzüchter erhielten jeder so viele Schafe, Ziegen und Hühner, wie ihr Herrscher an Jahren zählte. Eine gewisse Menge eigentlich für das Schlachthaus bestimmter Tiere würde freigelassen. Und später nahm er im Harem dann an jener Zeremonie teil, in deren Verlauf ein Knoten in den Faden seines Lebens geknüpft wurde, jenes Fadens, der die Anzahl der Jahre seines Lebens festhielt. Außerdem hatte er heute eine Entscheidung hinsichtlich jenes Fremdlings zu fallen, der von sich behauptete, ein «Mogul der Liebe» zu sein.
Dieses Individuum hatte für den Herrscher bereits eine Viel-zahl von Gefühlen ausgelöst: Amüsement, Interesse, Enttäu-schung, Ernüchterung, Überraschung, Erstaunen, Faszination, Irritation, Vergnügen, Verwirrung, Misstrauen, Wohlwollen, Langeweile und immer öfter auch, das musste er gestehen, Zuneigung und Bewunderung. Eines Tages begriff er, dass Eltern ähnlich für ihre Kinder empfinden, auch wenn er im Fall seiner eigenen Söhne nur wenige Augenblicke der Zuneigung erleben durfte, aber immer wieder Misstrauen, Enttäuschung und Ernüchterung hatte erfahren müssen. Fast schon seit seiner Geburt intrigierte der Kronprinz gegen ihn, und alle drei Jungen waren aus der Art geschlagen, doch der Mann, der die Geschichte von Qara Köz erzählte, benahm sich stets respektvoll, war zweifellos intelligent, furchtlos und konnte ein gewaltiges Garn spinnen. Seit einiger Zeit hegte Akbar einen nahezu skandalösen Gedanken hinsichtlich dieses so ausnahmslos liebenswürdigen Vespucci, der sich derart gut dem Leben am Hofe angepasst hatte, dass man ihn allgemein schon so behandelte, als würde er von Rechts wegen dazugehören. Prinz Salim hasste ihn, ebenso der religiöse Fanatiker Badauni, dessen geheimes Buch giftiger Anschläge auf den Herrscher von Tag zu Tag dicker und dicker, der Autor dagegen dünner und dünner wurde, doch gereichten dem Fremdling solche Animositäten eher zur Ehre. Des Herrschers Mutter sowie Königin Mariam-uz-Zamani, sein erstes, tatsächlich real existierendes Weib, konnten den Fremden gleichfalls nicht ausstehen, doch mangelte es den bei den an Phantasie, weshalb sie sich jeglichem Vordringen einer Traumwelt in die Wirklichkeit widersetzten.
Der beinahe skandalöse Gedanke hinsichtlich Vespucci machte Akbar nun schon seit geraumer Zeit zu schaffen, wes-halb er ihm nachgehen wollte und begann, den Fremdling in diverse Staatsangelegenheiten einzubeziehen. Beinahe auf Anhieb meisterte der gelbhaarige «Mogul» die schwierigen Details des mansabdari-Systems, mit dessen Hilfe das Reich regiert wurde und von dem sein Fortbestand abhing, jene Pyramide der Würdenträger, die entsprechend ihrem Rang berittene Truppen befehligten und dafür Lehnsgüter erhielten, die ihren Reichtum ausmachten. Schon nach Tagen kannte er die Namen aller mansabdars im Reich auswendig - dabei gab es allein dreiund-dreißig Offiziersränge, von königlichen Prinzen, die zehntausend Mann, bis hinunter zu den einfachen Befehlshabern, die nur zehn Mann kommandierten -, außerdem erkundigte er sich nach den Leistungen einzelner Würdenträger und war so in der Lage, dem Herrscher sagen zu können, welcher mansabdar eine Beförderung verdiente und wer seine Aufgaben vernachlässigte. Der Fremdling war es auch, der Akbar jene grundlegende Änderung in der Struktur des Systems vorgeschlagen hatte, mit der die Stabilität des Reiches für weitere einhundertfünfzig Jahre gesichert werden sollte. Ursprünglich waren die meisten mansabs Turani, also Zentralasiaten mogulischer Herkunft, die entweder selbst Perser waren oder deren Familien aus der Gegend von Ferghana und Andijon stammten. Auf Mogors Rat begann Akbar, eine größere Anzahl Abkömmlinge anderer Volksstämme aufzunehmen, der Rajputen, Afghanen und indischen Muslime, sodass keine Gruppe mehr die Übermacht besaß. Die Turani waren nach der Reform zwar immer noch die größte Gruppe, besetzten aber nur noch etwa ein Viertel aller Stellen. Folglich konnte keine Gruppierung den übrigen Würdenträgern Vorschriften machen, und alle waren gezwungen, miteinander auszukommen und zu kooperieren. Sulh-i-kul. Vollkommener Friede. Alles nur eine Frage der Organisation.
Er war also ein Mann, der mehr konnte, als nur einige Zauber-tricks vorzuführen oder Geschichten zu erzählen. Der angenehm beeindruckte Herrscher begann, auch die athletischen und militärischen Fähigkeiten des jungen Mannes auf die Probe zu stellen, und fand heraus, dass er ein ungesatteltes Pferd zu reiten, mit dem Pfeil sein Ziel zu treffen und ein Schwert mit mehr als bloß passablem Geschick zu führen wusste. Außer für seine Fähigkeiten im Umgang mit den Waffen war er auch für seine Rede- kunst bekannt, und er wurde rasch ein Experte in den beliebtesten Hausspielen des Hofes, etwa dem Brettspiel chandal mandal oder dem Kartenspiel ganjifa, dem er eine besondere Note verlieh, indem er die Figuren der bunten Karten mit hohen Persönlichkeiten von Sikri gleichsetzte. Ashwapati, der Meister der Pferde, die höchste Karte im Spiel, war natürlich der Herrscher selbst. Dhanpati, der Schatzmeister, war selbstverständlich der Finanzminister Raja Todar Mal, und Tiyapati, die Königin der Damen, war natürlich Jodha Bai. Raja Man Singh war Dalpati, der Meister der Schlacht, und Birbal, der von allen Geliebte, der Erste unter seinesgleichen, musste wohl Garhpati sein, Herr der Burg. Akbar fand diese Zuordnungen höchst amüsant. «Und Ihr, mein Mogul der Liebe», sagte er, «Ihr seid bestimmt Asrpati.» Das war der Meister der Flaschengeister, der König der Zauberer und Magier. Woraufhin sich der Fremdling mit der Bemerkung vorwagte: «Und Ahipati, der Herr der Schlangen, ]ahanpanah … könnte das nicht der Kronprinz Salim sein?»

Kurz gesagt, dieser Mann war ein Mann mit vielen ehrenwer-ten Eigenschaften, was die erste Voraussetzung für jeden ehrenwerten Mann war. «Geschichten können warten», sagte der Herrscher. «Erst müsst Ihr Euer Wissen darüber mehren, wie es hier so zugeht.» Um in die Geheimnisse der Finanzen und der Regierungsgeschäfte eingeweiht zu werden, wurde Mogor dell’ Amore daher erst Raja Todar Mal und dann Raja Man Singh zur Seite gestellt, und als Birbal gen Westen zu den Burgen von Chittorgarh und Mehrangarh ritt, nach Ajmer und Jaisalmer, um in jenen Teilen des Reiches bei Untertanen und Verbündeten nach dem Rechten zu sehen, begleitete ihn der Fremdling in der Rolle eines hohen Beraters und bewunderte staunenden Auges die Macht des Herrschers, als er jene unbezwingbaren Palastanlagen sah, deren Fürsten ausnahmslos ihr Knie vor dem König der Könige beugten. Die Monate wurden zu Jahren, und bald begriff jedermann, dass der großgewachsene, gelbhaarige Mann nicht mehr als Fremdling galt. Der «Mogul der Liebe» war zum Berater und Vertrauten des großen Moguls geworden.
«Behaltet den Herrn der Schlangen im Auge», wurde Mogor vom Herrscher gewarnt. «Das Messer, das er mir gern in den Rücken stoßen würde, könnte den Weg in Euren Rücken finden.» Dann starb Birbal.

Der Herrscher machte sich Vorwürfe, da er dem Wunsch sei-nes Freundes nach einem militärischen Kommando stattgege-ben hatte. Doch Birbal hatte den Aufstand der Raushanai, der Illuminati der Afghanen, überraschend persönlich genommen gleichsam stellvertretend für seinen Herrscher. Ihr Anführer, der Prophet Bayazid, hatte Hinduismus und Islam zu einem pantheistischen Eintopf ekelhafter Amoralität zusammen gerührt. Birbal war empört. «Gott ist in jedem und allem, folglich sind alle Handlungen göttlich, weshalb es, da jegliches Tun und Treiben göttlich ist, keinen Unterschied mehr zwischen Falsch und Richtig gibt, Gut und Böse, und wir können tun, wonach immer uns der Sinn steht?», höhnte er. «]ahanpanah, vergebt mir, aber dieser unbedeutende Kriegsfürst macht sich über Euch lustig. Euer Verlangen, den einen Glauben in allen Religionen zu finden, verkehrt er Euch zum Spott ins Hässliche. Allein für diese Unverschämtheit gehört er bestraft, selbst wenn er nicht wie ein Barbar rauben und plündern würde. Plündern ist in seinen Augen natürlich erlaubt - haI -, da die Raushanai das erwählte Volk sind, von Gott erkoren, die Welt zu erben. Wer wollte also etwas dagegen einwenden, wenn sie sich schon ein wenig vorzeitig von ihrem Erbe bedienen?»

Der Glaube, Plündern sei eine religiöse Pflicht, mittels deren die Erwählten sich aneigneten, was ihnen dank eines göttlichen Geschenks sowieso zustehe, fand bald Gefallen bei den verschiedenen Stämmen des afghanischen Berglandes, sodass die Zahl der Mitglieder dieser Sekte rasant anstieg. Dann aber starb Bayazid überraschend und wurde als Anführer der Raushanai vom sechzehnjährigen Jalaluddin ersetzt, seinem jüngsten Sohn. Birbal reagierte auf diese Entwicklung mit ungezügelter Wut, denn «Jalaluddin» war auch Akbars Geburtsname, ein Zufall, der die Unverschämtheit der Raushanai über die Maßen mehrte. Jahanpanah, es ist an der Zeit, diesen Beleidigungen die Antwort zu erteilen, die sie verdienen», sagte er. Akbar, den diese so gänzlich unmilitärische Wut sehr amüsierte, willigte ein und gab Birbal freie Hand. Der Fremdling Mogor dell’ Amore sollte Birbal diesmal aber nicht begleiten. «Für einen afghanischen Krieg ist er noch nicht bereit», verkündete der Herrscher unter allgemeinem Gelächter im Haus der privaten Anhörung. «Er soll bleiben, an unserem Hofe, um uns Gesellschaft zu leisten.»
Der Aufstand war jedoch kein Spaß. Die Bergstraßen galten als nahezu unpassierbar. Und kaum war Birbal eingetroffen, um den Illuminati eine Lektion zu erteilen, geriet er am Malandrai-Pass in einen Hinterhalt. Später kursierten fiese Gerüchte, die besagten, der Minister sei von der Truppe fortgelaufen, um die eigene Haut zu retten; andere Gerüchte aber, denen der Herrscher glaubte, sprachen von Verrat. Vermutlich hatte der Kronprinz bei alldem eine Rolle gespielt, doch konnte Akbar das nicht beweisen. Birbals Leiche sollte nie gefunden werden. Achttausend Mann wurden niedergemetzelt.
Nach der Katastrophe am Malandrai-Pass fühlte sich der Herrscher lange Zeit sehr elend und war vor Kummer derart von Sinnen, dass er nichts mehr trank und nichts mehr aß. Seinem gefallenen Freund zu Ehren schrieb er ein Gedicht. Du gabst den Hilflosen, wann immer du konntest, Birbal. Jetzt bin ich der Hilflose, aber du hast nichts mehr, was du mir zu geben vermagst. Zum ersten und einzigen Mal schrieb er in der ersten Person, nicht wie ein König, sondern wie jemand, der um einen geliebten Freund trauert. Und während er noch Birbals Tod beklagte, schickte er erst Todar Mal, dann Man Singh aus, um den Aufstand niederzuknüppeln und die Raushanai zu unterwerfen. Überall in den Palästen Sikris gähnte die Leere, leere Stellen, die drei seiner Neun Juwelen eingenommen hatten und die kein Geringer füllen konnte. Immer enger schloss er sich folglich Abul Pazl an, verließ sich immer stärker auf ihn. Und dann hatte er diesen Gedanken, diesen nahezu skandalösen Gedanken, den er auch acht Monate nach Birbals Tod noch sorgsam erwog, am Tag seines vierundvierzigsten Geburtstags, an dem er zur königlichen Waage ging, um selbst gewogen zu werden.
Dies war die Frage, auf die er eine Antwort zu finden versuchte:
Sollte er den Fremdling Mogor dell’Amore, auch als Niccolo Vespucci bekannt, den Erzähler großartiger Geschichten, der so schamlos behauptete, sein Onkel zu sein, und der bewiesen hatte, welch fähiger Verwalter und Berater er war, sollte er jenen Mann also, an dem er solch unerwarteten Gefallen gefunden hatte, zu seinem Sohn ehrenhalber machen? Der Rang eines farzand gehörte zu den äußerst selten verliehenen, heftig begehrten Auszeichnungen des Reiches, und jeder, dem dieser Titel zugesprochen wurde, hatte von Stund an Zugang zum innersten Kreis des Herrschers. Hatte dieser junge Vagabund, der für ihn eher wie ein jüngerer Bruder als wie sein Kind (oder sein Onkel, war, eine derartige Ehrung verdient? Und - nicht weniger wichtig -, wie würde eine solche Lobeserhebung aufgenommen werden?

Er zeigte sich am jharokha, und die Menge brach in laute Ju-belrufe aus. Dieser Mogul der Liebe, sinnierte Akbar, war beim Volk ebenfalls recht beliebt, doch nahm der Herrscher an, dass diese Popularität viel mit seinem Erfolg im Haus der Kurtisanen unten am See zu tun hatte, dem Hause Skanda, in dem Skelett und Matratze den Ton angaben, aber auch mit Qara Köz, ließ sich doch kaum leugnen, dass die Geschichte von der verschwiegenen Prinzessin Eingang in den Sagenschatz der Hauptstadt gefunden hatte und das Interesse der Menschen daran kaum nachließ. Außerdem wusste das Volk, welche Enttäuschung die Söhne des Königs für ihn waren. Die Zukunft des Herrscherhauses stellte also ein Problem dar. Der Legende zufolge zog Timur, der Vorfahre der Moguln, noch während seiner Zeit als kleiner Bandit in der Verkleidung eines Kameltreibers durch die Lande, als er von einem Bettelmönch angesprochen wurde, einem faqir, der ihn um ein wenig zu essen und einen Schluck zu trinken bat. «Gebt Ihr mir Nahrung, schenke ich Euch ein Königreich», versprach der faqir, der den Islam zugunsten des Hinduismus aufgegeben hatte. Timur gab dem Mönch, was er begehrte, woraufhin der faqir seinen Mantel über Timur warf und begann, ihn mit der flachen Hand auf den Hintern zu hauen. Nach elf Schlägen warf Timur wütend den Mantel ab. «Hättet Ihr länger ausgehalten», sagte der faqir, «hätte Eure Dynastie länger Bestand gehabt. So wird sie mit dem elften Nachfolger enden.» Akbar war der achte Nachfahre nach Timur dem Lahmen; falls man der Legende also Glauben schenken wollte, säßen die Moguln noch drei Generationen lang sicher auf dem Thron von Hindustan. Nur gab es mit der neunten Generation ein Problem. Die achtzehn, fünfzehn und vierzehn Jahre alten Söhne waren allesamt Trunkenbolde, einer von ihnen litt an der Fallsucht, und der Kronprinz, na ja, was wollte man schon über den Kronprinzen sagen: Er war ein entsetzliches Ärgernis, sonst nichts.

An seinem Geburtstag, in der Waagschale des Lebens hockend, um zwölf Mal gegen Reismilch aufgewogen zu werden, dachte der Herrscher über die Zukunft nach. Anschließend suchte er die Kunstwerkstätten auf, doch war er in Gedanken nicht bei der Sache. Sogar im Harem, in dem ihn seine Frauen umgaben, ihre Sanftheit ihn umhüllte, war er abgelenkt. Er spürte, dass er an einen Wendepunkt gelangt war und dass es dabei irgendwie um diese Entscheidung hinsichtlich des Fremden ging. Ihn in die Familie aufzunehmen wäre ein Zeichen dafür, dass er tatsächlich Abul Fazls Idee eines Weltenkönigs verfolgte, da er ins eigene Haus - in sich selbst - Personen, Orte, Erzählungen und Möglichkeiten noch unbekannter Länder aufnahm, Länder, die ihrerseits unterworfen werden konnten. Wenn ein Fremdling Mogul zu werden vermochte, dann würden dies über kurz oder lang alle Fremden werden können. Außerdem tat er damit einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Schaffung einer Kultur der Einbeziehung, ebenjener Kultur, die von der Sekte der Raushanai allein durch ihre Existenz verspottet worden war: seine wahre, Gestalt gewordene Vision, der zufolge alle Rassen, Stämme, Clans, Glaubensrichtungen und Nationen Teil einer großen Mogul-Synthese werden würden, der einen großen Vermengung der Erde, ihrer Wissenschaften, ihrer Künste, ihrer Lieben, Differenzen, Probleme, Eitelkeiten, ihrer Philosophien, ihrer Spiele und Launen. All das brachte ihn zu dem Schluss, dass es ein Akt der Stärke wäre, Mogor dell’ Amore mit dem Titel eines farzand zu ehren.
Doch könnte es nicht wie Schwäche wirken? Wie Sentimenta-lität, Selbstbetrug, Leichtgläubigkeit? Auf einen glattzüngigen Fremden hereinzufallen, von dem man nichts weiter wusste als das, was er selbst in seiner unvollständigen, chronologisch problematischen Geschichte von sich zum Besten gegeben hatte? Denn wollte man ihn offiziell anerkennen, wäre das, als wollte man sagen, die Wahrheit sei nicht länger bedeutsam und es käme nicht mehr darauf an, ob seine Geschichte bloß eine geschickt konstruierte Lüge war oder nicht. Sollte ein Fürst es nicht tunlichst vermeiden, seine Verachtung für die Wahrheit derart deutlich zu zeigen? Sollte er sie nicht verteidigen und erst unter dem Schutz dieses Vorwandes lügen, wann immer es ihm passte? Sollte ein Fürst also nicht gefühlloser sein? Kälter? Unempfänglicher für Phantasien und Visionen? Vielleicht war Macht die einzige Vision, die er sich gestatten sollte. Nützte die Erhebung des Fremdlings der Macht des Herrschers? Nun, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Und jenseits dieser Fragen taten sich größere Probleme auf, Fragen aus der Welt der Magie, in der jedermann ebenso leidenschaftlich lebte wie in der Welt fassbarer Stofflichkeit. Wenn Akbar die Menge jeden Morgen am jahrokha-Fenster einen Blick auf sich erhaschen ließ, nährte er diesen Glauben; unten drängten sich Verehrer, Anhänger des aufkeimenden Kultes des Erhaschens, die gleich im Anschluss Wundergeschichten verbreiteten. Jeden Tag wurden die Kranken, die Sterbenden zu ihm gebracht, und wenn Akbars Blick auf sie fiel, wenn er gar in dem Moment einen Blick auf sie erhaschte, in dem sie ihrerseits einen Blick auf ihn erhaschten, dann war sofortige Heilung das unweigerliche Ergebnis. Solches Erhaschen übertrug des Herrschers Macht auf den Erhaschten. Magie strömte ausnahmslos von der mit größerer Magie ausgestatteten Person (Herrscher, Nekromant, Hexe, zu der mit weniger Magie behafteten, so lautete eines ihrer Gesetze.
Es war wichtig, nicht gegen die Gesetze der Magie zu versto-ßen. Wenn man von einer Frau verlassen wurde, dann geschah dies, weil man sie nicht mit dem richtigen Zauber umgarnt hatte, weil jemand anders einen stärkeren Zauberspruch kannte oder weil die Ehe unter einem derart starken Fluch stand, dass dieser Fluch das Band der Liebe zwischen Mann und Frau zerschnitt. Warum war Der-und-der erfolgreich im Beruf, nicht aber So-undso? Weil er den richtigen Zauber kannte. Etwas im Herrscher rebellierte gegen diesen ganzen Humbug, denn es kam doch einer Infantilisierung gleich, wenn man die Macht der eigenverantwortlichen Wirksamkeit aufgab und glaubte, solche Macht gründe nicht innerhalb, sondern außerhalb von einem selbst. Den gleichen Einwand brachte er auch gegen Gott vor, dass nämlich dessen Existenz den Menschen um das Recht brachte, eigene ethische Strukturen schaffen zu können. Doch Magie war überall und konnte nicht abgestritten werden; zudem wäre er ein unbesonnener Herrscher, wenn er sich darüber lustig machte. Religion ließ sich überdenken, analysieren und ändern, vielleicht sogar abschaffen; Angriffe auf die Magie aber blieben wirkungslos. Ebendeshalb beschäftigte die Geschichte von Qara Köz ja die Phantasie der Bewohner Sikris. Die verschwiegene Prinzessin hatte ihre Magie, die Magie ihres Volkes, in eine andere Welt gebracht, eine Welt mit ihrem eigenen Zauber, und die Hexenkraft von Qara Köz war stärker gewesen, ihre Zauberkunst, der nicht einmal er, der Herrscher, widerstehen konnte.
Die offenen magischen Fragen hinsichtlich des Fremdlings Niccolo Vespucci, dieses selbsternannten Moguls der Liebe, ließen sich wie folgt umschreiben: War seine Anwesenheit am Hofe ein Segen oder ein Fluch? Würde seine Erhebung zu höherem Rang für das Reich zum Vorteil sein, oder würde sie irgendein dunkles Gesetz der Fortune verletzen und folglich ein Unglück für seine Herrschaft nach sich ziehen? War Fremdheit an sich etwas, das man als eine belebende Kraft begrüßen sollte, die ihren Anhängern Erfolg und Reichtum versprach, oder verfälschte sie Wesentliches im Einzelnen wie in der Gesellschaft als Ganzes, setzte sie einen Verfallsprozess in Gang, der mit einem entfremdeten, unauthentischen Tod endete? Der Herrscher hatte bei den Wächtern der unsichtbaren Reiche Rat geholt, bei Handdeu-tern, Astrologen, Weissagern, Mystikern und anderen Weisen, an denen es in der Hauptstadt niemals mangelte, vor allem nicht rund um das Grabmal von Salim Chishti, doch war ihr Rat widersprüchlich ausgefallen. Die Meinung von Pater Acquaviva und Monserrate, der europäischen Landsleute des Fremden, hatte er erst gar nicht erfragt, da deren feindselige Haltung zum Geschichtenerzähler allgemein bekannt war. Und Birbal, ach, sein geliebter, weiser Birbal, war nicht mehr.

Letzten Endes also blieb es ihm allein überlassen. Nur er konnte entscheiden.
Der Tag ging zu Ende, und er hatte keine Entscheidung getroffen. Um Mitternacht meditierte er unter dem Halbmond. Er kam zu ihm, ganz in Silber, lautlos und leuchtend.

Schließlich wurde Jodha für viele Menschen unsichtbar. In ih-ren Diensten stehendes Personal konnte sie natürlich sehen, deren Lebensunterhalt hing schließlich davon ab, doch die übrigen Königinnen, die schon immer etwas gegen ihre Anwesenheit gehabt hatten, nahmen sie kaum mehr wahr. Jodha wusste, dass Schlimmes mit ihr geschah, und hatte schreckliche Angst. Sie fühlte sich schwächer, und manchmal, von Zeit zu Zeit, gleichsam auch periodisch, so als käme und ginge sie, als würde ihr Lebenslicht gelöscht, wieder angezündet, dann erneut gelöscht und aufs Neue angezündet. Birbal war tot, und sie schwand dahin, dachte Jodha. Die Welt wandelte sich zum Schlechteren. Der Herrscher suchte sie dieser Tage immer seltener auf, und wenn er kam, wirkte er abwesend. Sie hatte sogar den Eindruck, dass er an jemand anderen dachte, wenn er sie liebte.
Der spionierende Eunuch Umar der Ayyar, der alles sah, auch so manches, was noch gar nicht geschehen war, traf sie in der Hitze des Nachmittags an, als sie sich in der Kammer des Windes ausruhte, dem luftigen Zimmer im zweiten Stock, in dem drei der vier Wände jalis zierten, filigran durchbrochenes Mauerwerk. Es war der Tag nach dem Geburtstag des Herrschers, und von den Bewegungen des Eunuchen ging etwas seltsam Drängendes aus, obwohl ihn doch sonst eher träge Anmut und phlegmatische Gesten kennzeichneten. Heute wirkte er dagegen ein wenig verstört, fast als hüpften die Neuigkeiten in ihm hin und her und brächten ihn aus dem Gleichgewicht. «Nun gut», verkündete er, «ein großer Augenblick für Euch. Die Maria der Ewigkeit und die Maria des Hauses
- die Frau und die Mutter des Göttlichen Kalifen, des Einzigartigen Juwels, des Khediven unserer Zeit statten Euch höchstpersönlich einen Besuch ab.»
Die Maria der Ewigkeit war Mariam-uz-Zamani, die leibliche Mutter des Kronprinzen Salim, Rajkumari Hira Kunwari, eine Kachhwaha-Rajputen-Prinzessin aus Ajmer. Die Maria des Hauses, Mariam Makani, war Hamida Bono, die Mutter des Herrschers. (Der Kalif, das Juwel und der Khedive waren natürlich alle der Herrscher selbst., Wenn diese beiden großen Damen, die der nichtexistenten Königin bisher nie auch nur einen guten Tag gewünscht hatten, sie in ihren Privatgemächern aufsuchten, stand Bedeutsames bevor. Jodha sammelte sich und nahm eine unterwürfige Haltung ein, faltete die Hände und senkte den Blick, um ihre Ankunft zu erwarten. Minuten später rauschten sie herein, auf den Gesichtern ein Ausdruck sowohl des Erstaunens wie der Verachtung. Bibi Fatima, Echo und Hofdame der Königinmutter, war bei dieser Gelegenheit abwesend, zum einen, weil sie kürzlich gestorben war, zum anderen, weil sich die Damen gegen jede Begleitung durch irgendwelche Höflinge entschieden hatten, von Umar dem Ayyar einmal abgesehen, dessen Verschwiegenheit außer Zweifel stand. Verwirrt schauten sie sich um und wandten sich dann hilfesuchend an den Ayyar. «Wo ist sie?», zischte Hamida Bono. «Ist sie aus dem Zimmer gegangen?» Umar deutete mit einem leichten Kopfnicken in Jodhas Richtung. Die Königinmutter sah sich verwirrt um, während die jüngere Dame königlichen Geblüts nur verächtlich schnaubte und sich dann der ungefähren Richtung zuwandte, in die der Spion gedeutet hatte.
«Ich bin hier zu meinem eigenen, nicht unbeträchtlichen Er-staunen», sagte Königin Mariam-uz-Zamani und sprach zu laut und zu langsam, als redete sie mit einem begriffsstutzigem Kind, «um mich mit einer Frau zu unterhalten, die nicht existiert, deren Abbild kein Spiegel wiedergibt und die für mich aussieht wie Luft über dem Teppich. Ich bin mit der Mutter des Herrschers gekommen, Witwe der Kuppel der Absolution, ehedem geliebte Gemahlin des Herrschers Humayun, des Wächters der Welt, dessen Nest das Paradies ist, denn wir fürchten, dass Schlimmeres als Ihr den Herrscher beherrscht, meinen edlen Gatten, ihren illustren Sohn. Nach unserer Auffassung hat ihn der Fremdling Vespucci verzaubert, der uns als Sendbote des Ungläubigen, des Teufels geschickt wurde, ein Mann mit schwarzem Herzen, der unsere Ruhe stört und uns demütigt, dessen Zauber die Männlichkeit unseres Herrschers in den Bann schlägt und so seinen gesunden Menschenverstand schwächt, was wiederum das gesamte Reich in Gefahr bringt und folglich daher auch uns. Es ist ein Zauber, von dem Ihr sicherlich gehört habt - wie es scheint, weiß ganz Sikri bereits darüber Bescheid! Er nimmt die Form einer Erscheinung von Qara Köz an, der sogenannten verschwiegenen Prinzessin. Wir wissen … » und da stockte die Maria der Ewigkeit, denn was sie zu sagen hatte, verletzte ihren Stolz -, «dass der Herrscher Euch aus den ihm eigenen Gründen jeder anderen weiblichen Gesellschaft vorzieht», sie weigerte sich, Königin zu sagen, «und wir hoffen, dass Ihr, sobald Ihr erfahrt, in welcher Gefahr er schwebt, begreifen werdet, wo Eure Verantwortung liegt. Kurz und gut, wir wünschen, dass Ihr all Eure Macht über ihn nutzt, um ihn aus diesem verhexten Zustand zu retten - vor seiner Lust für diesen Höllendämon in weiblicher Gestalt -, und wir wollen Euch dabei helfen, indem wir Euch alles beibringen, womit eine Frau jemals Macht über einen Mann gewann, etwas, das der Herrschet als Mann nicht wissen kann und Euch daher auch nicht beibringen konnte, Euch, seinem ein wenig absurden und, wie mir scheint, fast nicht wahrnehmbaren Geschöpf. Wir wissen, Ihr habt viele Bücher gelesen, und ich bezweifle nicht, dass Ihr geflissentlich lerntet, was sie Euch zu lehren wussten. Doch gibt es Dinge, die nie in Büchern niedergeschrieben wurden, da sie seit Anbeginn aller Zeit nur auf mündliche Weise von Frau zu Frau weitergegeben werden, in flüsterndem Ton von Mutter zu Tochter. Haltet Euch an das, was wir Euch lehren werden, so wird er wieder Euer Sklave sein, und der Sieg der Dämonin über den Herrn von Fatehpur Sikri lässt sich vielleicht noch verhindern. Denn Qara Köz ist, dessen sind wir gewiss, ein böser Geist aus der Vergangenheit, ein Rachegeist, der gegen sein langes Exil aufbegehrt und den Herrscher durch die Zeit zurücksaugen will, um ihn zu besitzen und ihn zu unser aller Schaden zu vernichten. Jedenfalls wäre es besser, uns bliebe, wenn denn überhaupt möglich, der Anblick eines Herrschers von Hindustan erspart, des Königs der Manifestation und der Wirklichkeit, des Mannes mit makellosem Körper, des Herrn über den Glauben und das Firmament, der in das Phantom seiner abtrünnigen und zudem längst dahingeschiedenen Großtante vernarrt ist.»
«Denkt daran, was mit dem Maler Dashwanth passiert ist», warf die Königinmutter ein.
«Ganz recht», stimmte ihr Mariam-uz-Zamani zu. «Wir mögen uns damit abfinden, einen Künstler auf diese Weise zu verle-gen, den Schirmherrn der Welt aber können wir nicht verlieren.»
Sie konnten die Frau tatsächlich nicht sehen, zu der sie spra-chen, doch waren sie gewillt, sich auf ihren Teppichen niederzulassen, sich auf ihren Polstern zu rekeln, den Wein zu trinken, den ihre Mägde ihnen anboten, und der leeren Luft die sexuellen Geheimnisse der Frauen aller Zeiten zu verraten. Nach einer Weile schwand das Gefühl, sie hätten ihren Verstand verloren, und sie taten, als wären es sie allein, nur sie beide, die sich miteinander unterhielten und offen über das sprachen, was stets nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit weitergegeben worden war, nur sie beide, die hilflos über die schockierende Komödie des Begehrens lachen mussten, über die absurden Dinge, die Männer wollen, und die ebenso absurden Dinge, die Frauen taten, um sie zufriedenzustellen, bis die Jahre von ihnen abfielen und sie sich an ihre eigene Jugend erinnerten, daran, wie ihnen diese Geheimnisse dereinst von anderen grimmigen, ernst dreinblickenden Frauen erzählt worden waren, die sich nach einer Weile dann ebenfalls in brüllendem Gelächter gekrümmt hatten, bis das Gelächter im Raum zu guter Letzt das Gelächter von Generationen war, das Gelächter aller Frauen und der Geschichte.
Auf diese Weise unterhielten sie sich fünfeinhalb Stunden, und als sie zum Ende kamen, fanden sie, es war der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Sie begannen, freundlichere Empfindungen als je zuvor für Jodha zu hegen. Sie war jetzt eine von ihnen, Teil der Frauenriege, und nicht mehr nur allein des Herrschers Geschöpf. In gewisser Weise war sie jetzt auch die Ihre.
Es dämmerte. Die Kerzenlakaien kamen mit Kampferkerzen in silbernen Kerzenständern. Fackelschalen in eisernen Halterungen an der Rückwand des Zimmers wurden entzündet, und lustig flackerte die Flamme über dem Baumwollsamenöl, sodass die Schatten der hohen Damen über den roten Stein der jalis tanzten. In einem anderen Teil von Sikri aber änderte sich des Herrschers Phantasie, sein khayal, ein letztes Mal, und Umar der Ayyar hielt in der Kammer der Winde den Atem an. Einen Augenblick später sahen die Maria der Ewigkeit und die Maria des Hauses, was er gesehen hatte: nicht nur den Schatten einer dritten Frau vor den jalis, sondern klare Konturen, die sich aus dünner Luft formten, deutlicher wurden, sichtbarer, die sich füllten, bis eine Frau vor ihnen stand, auf den Lippen ein eigenartiges Lächeln. «Ihr seid nicht Jodha», entfuhr es der Königinmutter matt. «Nein», erwiderte die Erscheinung mit schwarzen, funkelnden Augen. «Jodhabai ist fort, der Herrscher hat für sie keine Verwendung mehr. Ich werde von nun an seine Gefährtin sein.» So lauteten die ersten Worte des Phantoms.
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen der beiden Königinnen verbreitete sich in Windeseile die Neuigkeit in der ganzen Stadt, das Phantom Qara Köz habe die imaginäre Königin Jodhabai verdrängt. Für manche war dies der endgültige Beweis dafür, dass die verschwiegene Prinzessin tatsächlich einst existiert hatte, dass sie ins Reich der Fakten, nicht ins Reich der Fiktionen gehörte, denn eine Frau, die nie am Leben gewesen war, konnte auch keinen Geist haben. Für andere stärkte es dagegen Abul Fazls Behauptung, dass dem Herrscher der Status eines Gottes zukomme, denn nun musste ihm angerechnet werden, er habe nicht bloß eine gänzlich imaginäre Frau geschaffen, die gehen, reden und ihn lieben konnte, obwohl sie gar nicht existierte, sondern auch eine echte Frau von den Toten zurückgeholt. Die vielen Familien, die fasziniert den Erzählungen über die verschwiegene Prinzessin gelauscht hatten, Erzählungen, aus denen rasch Geschichten geworden waren, die Eltern abends ihren Kindern erzählten, diese Familien begeisterte die Aussicht, Qara Köz vielleicht bald in der Öffentlichkeit sehen zu können. Einige konservative Stimmen sprachen von einem Skandal und beharrten darauf, dass Qara Köz einen Schleier tragen müsse, sooft sie die königlichen Frauengemächer verlasse, und dass die nacktgesichtige Schamlosigkeit, der sie offenbar auf den Straßen im Westen gefrönt habe, für das anständige Volk der Moguln nicht hinnehmbar sei.

Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser übernatürliche Vor-fall akzeptiert wurde, verdankte sich natürlich der Tatsache, dass Derartiges nichts Besonderes war, damals, als das Reale und das Irreale noch nicht auf immer getrennt und genötigt waren, unter verschiedenen Monarchen und in verschiedenen Rechtssystemen zu leben. Überraschender war dagegen schon der Mangel an Mitgefühl für die unglückselige Jodhabai, die auf so brüske Manier vom Herrscher fallengelassen wurde und in der Kammer der Winde vor den Augen der Königinmutter und der Ersten Königin auf derart demütigende Weise ersetzt worden war. Einige Stadtbewohner waren nicht sonderlich gut auf Jodha zu sprechen, weil sie sich stets geweigert hatte, den Palast zu verlassen. Ihre Entmaterialisierung sahen diese Leute daher als wohlverdiente Strafe dafür an, dass sie über die Maßen arrogant und nicht sonderlich volksnah gewesen war. Qara Köz wurde zur Prinzessin des Volkes, Jodha wäre für derlei eine viel zu reservierte, distanzierte Königin gewesen.
All dies berichtete Umar der Ayyar seinem Herrscher, fügte aber auch eine Warnung hinzu. Längst nicht alle Reaktionen auf die Neuigkeit seien positiv gewesen. Im Bezirk der Turani, im persischen Viertel und in jener Gegend, in der die indischen Muslime lebten, mache sich ein gewisses Maß an Ruhelosigkeit bemerkbar. Unter den nichtislamischen Polytheisten, die zu viele Götter besaßen, um sie aufzählen zu können, sorgte die Ankunft eines weiteren wundersamen Wesens kaum für Aufregung, war doch die Versammlung der Götter bereits zu groß, um jeden einzelnen auch nur kennen zu können, denn in allem wohnte ein Gott, in Bäumen lebten Geister, auch in Flüssen, weiß der Himmel, wo noch, bestimmt gab es auch einen Müllgott und einen Gott der Toilette, jedenfalls war eine weitere spirituelle Wesenheit kaum der Rede wert. Auf den Straßen des Monotheismus dagegen löste Qara Köz’ Erscheinen einen ziemlichen Schock aus. Leises Gemurmel setzte ein, ein Gemurmel, das nur die spitzesten Ohren wahrnahmen, ein Gemurmel, das die geistige Gesundheit des Herrschers in Frage stellte. In Badaunis geheimem Journal, das Umar weiterhin Abend für Abend auswendig lernte, während der Anführer der manqul-Partei schlief, war plötzlich die Rede von Blasphemie, denn man könne zwar behaupten, es verstoße gegen kein göttliches Gesetz, wenn Menschen ihre Träume Wirklichkeit werden ließen, weshalb die Schöpfung Jodhas vielleicht noch keine Schandtat sei, doch nur der Allmächtige habe die Macht über die Lebenden und die Toten, weshalb der Herrscher, wenn er eine Frau zum eigenen Vergnügen vom Tode erwecke, zu weit gehe, viel zu weit; dafür gebe es keine Entschuldigung. Was Badauni insgeheim aufschrieb, murmelten seine Anhän-ger sich zu. Allerdings blieb der Geräuschpegel dieses Gemur-mels recht niedrig, da, wie schon das alte Sprichwort sagt, am Hof des Großmoguls nur die Kniefälligsten nicht hinfielen. Dennoch bestand nach Ayyars Ansicht Grund zur Sorge, denn unterhalb des niedrigen Geräuschpegels hatte er auf flachstem Niveau ein weit bedrohlicheres Gemurmel vernommen, eine viel schlimmere Verdammung der neuen Beziehung zwischen Akbar und Qara Köz. Auf diesem tiefen Niveau konnte Umar nur einige schwache Laute aufschnappen, Laute, die es kaum wagten, laut zu werden, von Lippen gesprochen, die sich kaum bewegten und sich entsetzlich vor Lauschern fürchteten. In diesen quasi präau-ditiven Vibrationen kam ein Wort vor, das mächtig genug war, der allgemeinen Wertschätzung, die der Herrscher genoss, ernsthaften Schaden zuzufügen, ja, seinen Thron vielleicht sogar ins Wanken zu bringen.
Dieses Wort war Inzest. Und Umars Warnung kam gerade rechtzeitig, denn kurz nach dem Erscheinen von Qara Köz in Fatehpur Sikri verließ Kronprinz Salim die Hauptstadt, um in Allahabad die Fahne der Rebellion zu hissen; und Blasphemie und Inzest lauteten die Vorwürfe, mit denen er seine Revolte rechtfertigte. Obwohl es Salim gelang, dreißigtausend Mann um sich zu scharen, war der Aufstand eine klägliche Angelegenheit. Mehrere Jahre lang galoppierte er durchs nördliche Hindustan und behauptete, seinen Vater stürzen zu wollen, wagte es aber nie, sich dem großen Herrscher tatsächlich in einer Schlacht zu stellen. Nur ein einziger schrecklicher Triumph war ihm vergönnt, als er erfolgreich die Ermordung des engsten Beraters veranlasste, der seinem Vater noch geblieben war, eines Mannes, dem er vorwarf, den «Verstand meines Vaters zu verderben», ihn zu blasphemischen Taten zu ermuntern und dafür zu sorgen, dass er seine Liebe von Gott und seinem heiligen Propheten abwende sowie auch, dass er «immer spitze Bemerkungen mache» und den Herrscher damit gegen den Kronprinzen aufbringe, gegen seinen Erben, seinen Sohn. Wie Birbal starb Abul Fazl in einem Hinterhalt. Prinz Salim hatte seinem Verbündeten Raja Bir Singh Deo Bundela von Orchha, durch dessen Gebiet das Juwel von Sikri reiste, die Nachricht gesandt, er möge den Mann ins Jenseits befördern, eine Bitte, der Raja bereitwillig nachkam. Er ließ den unbewaffneten Minister enthaupten und schickte den Kopf zu Salim nach Allahabad, wo der ihn mit gewohntem Anstand und Taktgefühl in eine Feldlatrine werfen ließ.
Akbar ruhte in der Kammer der Winde auf einem großen Keilkissen und hatte wohl ein wenig zu viel Wein getrunken, während er dem Abendphantom Qara Köz lauschte, das ihm traurige Liebeslieder sang und sich dabei auf einer dilruba begleitete, als Umar der Ayyar die Nachricht von Abul Fazls Tod überbrachte. Diese schreckliche Information brachte den Herrscher zu Verstand. Er sprang auf und verließ sogleich Qara Köz’ Gemächer. «Von jetzt an, Umar», schwor er, «werden wir wieder als ein wahrhafter Herrscher des Universums regieren und aufhören, uns wie ein pickliger, verliebter Grünschnabel aufzuführen.»
Die Gesetze, die für einen Prinzen gelten, sind weder die Ge-setze der Freundschaft noch die der Rache. Ein Prinz muss stets daran denken, was für das Reich am besten ist. Akbar wusste, zwei seiner drei Söhne durften ihm niemals auf den Thron folgen, da sie allzu sehr dem Trunk erlegen waren und an diversen Krankheiten litten, an denen sie sogar sterben könnten. Also blieb nur Salim; und was er auch angestellt hatte, die Erbfolge musste gewahrt bleiben. Also schickte Akbar seinem ältesten Sohn einen Boten, der ihm nicht nur versprach, dass der Vater davon absehen wolle, Abul Fazls Tod zu rächen, er erklärte auch des Monarchen unsterbliche Liebe für sein erstgeborenes Kind. Für Salim hieß dies, dass er recht daran getan hatte, Abul Fazl ermorden zu lassen. Und nun, da sein Vater das fette Wiesel los war, nahm er ihn wieder mit offenen Armen auf. Salim schickte Akbar Elefan-ten zum Geschenk, dreihundertfünfzig an der Zahl, um den Elefantenkönig zufriedenzustellen. Dann willigte er ein, nach Sikri heimzukehren, und im Hause seiner Großmutter Hamida Bano sank er dem Herrscher zu Füßen. Der hob ihn auf, nahm sich seinen Turban ab und drückte ihn dem Kronprinzen aufs Haupt, um ihm zu zeigen, dass ihm nichts nachgetragen wurde. Salim weinte; er war wirklich ein jämmerlicher junger Mann. Was jedoch Salims geistigen Ziehvater Badauni betraf, so wurde er in die schmutzigste Zelle des tiefsten Verlieses in Fatehpur Sikri geworfen, und außer seinen Wärtern hat ihn kein Mann und keine Frau jemals wieder zu Gesicht bekommen.

Nach dem Tod von Abul Fazl wurde der Herrscher streng und unnachgiebig. Er hatte festzulegen, wie sein Volk leben sollte, und allzu lange war diese Pflicht vernachlässigt worden. Also verbot er den Verkauf von Alkohol ans gemeine Volk, sofern dieser nicht vom Arzt verordnet wurde. Er ging gegen den großen Schwarm Prostituierte vor, die wie Heuschrecken in die Stadt eingefallen waren, ließ sie nach außerhalb in ein Lager namens Teufelsstadt bringen und verordnete, dass jeder Mann, der zu einem Teufel ging, Namen und Wohnadresse zu hinterlassen habe, ehe er die Sperrzone betreten durfte. Er riet davon ab, Rindfleisch, Zwiebeln und Knoblauch zu essen, und empfahl stattdessen Tiger, da er hoffte, mit dem Fleisch würde sich der Mut der Bestie auf das Volk übertragen. Er verkündete, dass die Einhaltung religiöser Pflichten frei von allen Zwängen zu sein habe, welcher Religion man auch angehöre, dass Tempel gebaut und lingams gewaschen werden konnten, nur Bärte wollte er nicht tolerieren, denn Bärte zogen ihre Kraft aus den Hoden, weshalb Eunuchen auch keine wuchsen. Er verbot Kinderehen und missbilligte Witwenverbrennungen sowie Sklaverei. Er riet seinem Volk, sich nach dem Liebesspiel nicht zu waschen. Und er bat den Fremdling zum Anup Talao, dessen Wasser unruhig und kabbelig dahinströmte, obwohl kein Wind wehte, ein Omen dafür, dass jenes, was in Frieden ruhen sollte, aufgestört worden war. «Euch umgeben immer noch zu viele Geheimnisse», sagte der Herrscher aufgebracht. «Wir können uns nicht auf einen Mann verlassen, dessen Lebensgeschichte wir nicht vollständig kennen. Also erzählt uns alles, nur gleich heraus damit, und dann können wir entscheiden, was mit Euch geschehen soll und wohin Euch Euer Schicksal führt, hinauf zu den Sternen oder hinab in den Staub. Klar und deutlich, bitte. Lasst nichts aus, heute wird ein Urteil gefallt.»
«Es könnte sein, dass Euch nicht behagt, was ich zu erzählen habe», erwiderte Mogor dell’Amore, «denn es betrifft Mundus Novus, die Neue Welt, sowie die unbeständige Natur der Zeit in jenem kaum erforschten Territorium.

In Mundus Novus jenseits des Ozeanischen Meeres waren die gewöhnlichen Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft gesetzt. Was den Raum betraf, so konnte er sich an einem Tag extrem ausdehnen, am nächsten aber wieder zusammenziehen, sodass die Größe der Erde entweder verdoppelt oder halbiert schien. Forscher brachten radikal verschiedene Berichte über die Proportionen der Neuen Welt heim, über die Eigenart ihrer Bewohner sowie über die Art und Weise, wie es auf diesem neuen Quadranten des Kosmos zuging. Es gab Berichte über fliegende Affen und Schlangen, lang wie Flüsse. Und was die Zeit betraf, so war sie völlig aus den Fugen. Sie beschleunigte und verlangsamte sich nicht nur ganz nach Belieben, es gab auch Perioden - allerdings vermag das Wort «Perioden» diese Phänomene nur recht unzulänglich zu umschreiben -, in denen sie überhaupt nicht verging. Die Einheimischen, jedenfalls jene wenigen, die eine europäische Sprache beherrschten, bestätigten, dass es keinerlei Veränderung in ihrer Welt gebe, dass dies ein Ort der Stasis sei, außerhalb der Zeit, und just so war es ihnen sehr recht. Möglicherweise - zumindest gab es einige Philosophen, die lautstark diese These vertraten -, möglicherweise also war die Zeit erst durch europäische Reisende und Siedler zusammen mit der ein oder anderen Krankheit nach Mundus Novus gebracht worden. Deshalb funktionierte sie auch nicht richtig. Sie hatte sich der neuen Lage noch nicht angepasst. «Mit der Zeit», sagten die Leute in Mundus Novus, «wird Zeit sein.» Vorläufig hatte man sich jedoch mit der fluktuierenden Natur der Uhren der Neuen Welt abzufinden. Eine der alarmierendsten Auswirkungen dieser chronologischen Ungewissheit bestand darin, dass die Zeit für manche Leute in unterschiedlichem Tempo verging, selbst innerhalb einzelner Familien und Haushalte. Kinder konnten rascher als ihre Eltern altem, bis sie älter als ihre Altvorderen wirkten. Für manche Eroberer, Seeleute und Siedler schien der Tag nie lang genug zu sein, andere dagegen hatten alle Zeit der Welt.
Während der Herrscher Mogor dell’ Amores Geschichte lauschte, ging ihm auf: Die Länder des Westens waren in einem Maße exotisch und surreal, wie es das Verständnis der einfachen Völker des Ostens weit überstieg. Im Osten arbeiteten die Menschen hart, lebten gut oder schlecht, starben einen edlen oder einen sinnlosen Tod und glaubten an Religionen, die große Kunst hervorbrachten, große Lyrik, große Musik und die neben ein wenig Trost auch viel Verwirrung stifteten. Ganz gewöhnliche leben eben. In jenen fabelhaften Gefilden des Westens aber schien das Volk für Hysterien anfällig zu sein - etwa die Jammerer-Hysterie in Florenz -, die ihre Länder wie Krankheiten heimsuchten und ein jegliches ohne Vorwarnung bis aufs äußerste veränderte. In letzter Zeit hatte die Goldverehrung eine besonders extreme Spielart der Hysterie hervorgebracht, die zur treibenden Kraft der Geschichte geworden war. Vor seinem geistigen Auge sah Akbar die aus Gold errichteten Tempel des Westens, drinnen goldene Priester, draußen goldene Gläubige, die zum Beten kamen und goldene Gaben brachten, um ihre goldenen Götter zufriedenzustellen. Sie aßen Gold und tranken Gold, und wenn sie weinten, rann geschmolzenes Gold über ihre schimmernden Wangen. Es war dieses Gold, das die Matrosen trotz der Angst, über den Rand der Welt zu fallen, immer weiter nach Westen über das Ozeanische Meer getrieben hatte. Gold und auch Indien, von dem sie glaubten, es berge fabelhafte Schätze. Indien fanden sie nicht, doch sie fanden … Land im Westen. In diesem Westland entdeckten sie Gold und suchten mehr, suchten goldene Städte und Flüsse aus Gold, dabei trafen sie auf Lebewesen, die noch unglaublicher, noch aufsehenerregender waren als sie selbst, bizarre, unfassbare Männer und Frauen mit Federn, Haut und Knochen, die sie Indianer nannten. Akbar fand das ziemlich ärgerlich. Männer und Frauen, die ihren Göttern Menschenopfer darbrachten, wurden Indianer genannt! Manche dieser «Indianer» in der anderen Welt waren offenbar kaum besser als die Urmenschen, und selbst jene, die Städte und Reiche erbaut hatten, versanken, so schien es dem Herrscher, tief in Blutideologien. Ihr Gott war halb Vogel, halb Schlange; ihr Gott war aus Rauch. Sie kannten einen Gemüsegott, einen Gott für Rüben und Getreide. Sie litten unter der Syphilis und hielten Steine, Regen und Sterne für lebende Wesen. Auf den Feldern arbeiteten sie langsam, beinahe träge, und sie glaubten nicht an Veränderung. Diese Menschen Indianer zu nennen war nach Akbars tief empfundener Überzeugung eine Beleidigung für die edlen Männer und Frauen von Hindustan. Der Herrscher wusste, er hatte in seinem Denken eine Schranke erreicht, eine Grenze, über die hinaus ihn seine Kräfte der Empathie und des Interesses nicht tragen konnten. Da waren Inseln, die sich zu Kontinenten wandelten, und Kontinente, die sich als bloße Inseln erwiesen. Da waren Flüsse und Dschungel, Landzungen und Landengen, doch hol sie der Teufel. Vielleicht waren Hydren in jenen Gefilden, Greife oder Drachen, die Schatzhaufen bewachten, wie sie angeblich im tiefen Dschungel ruhten. Er gönnte sie den Spaniern, den Portugiesen. Allmählich dämmerte diesen närrischen Exoten nämlich, dass sie keinen Weg nach Indien gefunden hatten, sondern ganz woanders waren, weder in Ost noch in West, irgendwo zwischen dem Westen, dem großen Gangesmeer und Taprobane, der sagenumwobenen Insel der Schätze, hinter der die Königreiche Hindustan, Cipangu und Cathay lagen. Sie hatten entdeckt, dass die Welt größer war, als sie vermuteten. Nun, viel Glück jenen, die den Ozean durchzogen von Insel zu Insel zur Terra Firma, um am Skorbut zu verrecken, am Hakenwurm, an Malaria, Schwindsucht und den Himbeerpocken. Der Herrscher war ihrer aller überdrüssig. Und doch war sie dorthin aufgebrochen, die pflichtvergessene Prinzessin des Hauses Timur und Temüdschin, Babars Schwester, Khanzadas Schwester, Blut von seinem Blut. Keine Frau in der Geschichte der Welt hatte je eine Reise wie die ihre unternommen, dafür liebte er sie und bewunderte sie auch, doch wusste er genau, dass ihre Reise über das Ozeanische Meer ein Sterben gewesen war, ein Tod vor dem Tod, denn auch der Tod war ein Segeln aus dem Bekannten ins Unbekannte. Sie war in die Unwirklichkeit gesegelt, in eine Welt der Phantasie, die noch in die Existenz geträumt wurde. Das Phantasma, das seinen Palast heimsuchte, war wirklicher als jene Frau aus Fleisch und Blut, die einst die reale Welt für eine unmögliche Hoffnung aufgegeben hatte, so wie sie zuvor die natürliche Welt der Familie und der Verpflichtung für ihre egoistische Liebe aufgegeben hatte. Indem sie davon träumte, den Weg zurück zu ihren Ursprüngen zu finden, mit ihrem früheren Selbst wiedervereint zu werden, verlor sie sich auf immer.

Der Weg nach Osten war ihr versperrt. Die Piraten in den Gewässern machten eine Überfahrt viel zu riskant. In der osmanischen Welt und im Königreich von Schah Ismail hatte sie ihre Schiffe verbrannt. In Chorasan, so fürchtete sie, würde sie von jenem gefangen genommen werden, der heute die Lücke füllte, die Shaibani Khan einst hinterlassen hatte. Und wo Babar war, wusste sie nicht, doch stand ihr auch der Weg zu ihm nicht offen. In Genua, im Strandhaus von Andrea Doria, wohin sie Ago Vespucci gebeten hatte, sie mitzunehmen, entschied sie, nicht jene Route einzuschlagen, die sie gekommen war, noch konnte sie angesichts des Zorns der Florentiner in der Stadt am Arno bleiben. Der mürrische alte Seebär Doria, den das neue, männliche Aussehen von Qara Köz und ihrem Spiegel schockierte, auch wenn er sich darüber jede Bemerkung verkniff, hieß sie auf galante Weise willkommen - denn noch war Qara Köz durchaus imstande, den Galan im Manne zu wecken, sogar in Männern, die für ihre Grobheit und Brutalität berüchtigt waren - und versicherte den beiden Damen, kein Mensch werde ihnen ein Leid antun, solange sie unter seinem Schutz standen. Doria war der Erste, der die Möglichkeit erwähnte, dass Qara Köz und ihr Spiegel doch auf der anderen Seite des Meeres ein neues Leben beginnen könnten.
«Wenn ich nicht so viele Berberpiraten zu töten hätte», sagte er, «ließe ich mich vielleicht überreden, die Reise selbst zu unternehmen und in die Fußstapfen von Signor Vespuccis gefeiertem Vetter zu treten.» Zu dieser Zeit hatte er bereits eine ganze Menge Piraten getötet, und seine persönliche Flotte, die meist aus den gekaperten Kähnen der Piraten bestand, umfasste zwölf Schiffe, deren Mannschaften nur Doria allein Treue schworen, doch hielt er sich nicht mehr für einen echten condottiere, da es ihn nicht im Mindesten reizte, auch an Land zu kämpfen. «Argalia war der Letzte von uns», erklärte er. «Ich bin nur ein verwässerter Rest.» In seiner Freizeit, wenn er keinen Krieg führte, schlug er in Genua politische Schlachten mit seinen Rivalen in den Familien Adorni und Fregosi, die ständig aufs Neue versuchten, ihm den Zugang zur Macht zu verwehren. «Aber mir gehören die Schiffe», sagte er und setzte dann noch hinzu - unfähig, sich zu bremsen, obwohl Damen anwesend waren (vielleicht auch nur, weil die Damen wie junge Herren gekleidet waren, - «dabei haben sie nicht mal einen Schwanz in der Hose, nicht wahr, Ceva?» Ceva der Skorpion, dieser tätowierte Ochse von einem Leutnant, errötete sogar, ehe er verlegen antwortete: «Nein, Admiral, jedenfalls nicht, soweit ich sehen konnte.»
Doria führte die. Gäste in seine Bibliothek und zeigte ihnen, was keiner von ihnen je zuvor gesehen hatte, nicht einmal Ago, obwohl bei diesem Werk ein Blutsverwandter beteiligt gewesen war: die Cosmographiae Introductio des Benediktinermönchs Waldseemüller aus dem Kloster Saint Die-des-Vosges, eine riesige Karte, die ausgebreitet beinahe den ganzen Boden bedeckte, eine Karte, deren Name ebenso endlos schien, die Universalis cosmographia secundum Ptholomaei traditionem et Americi Vespucii aliorumque lustrationes, also die vollständige Kosmographie nach der Über-lieferung des Ptolomäus und des Amerigo Vespucci sowie auch nach anderen Abbildungen. Auf dieser Karte glichen Ptolomäus und Amerigo wahren Kolossen, wie Götter blickten sie herab auf ihre Schöpfung, und auf einem großen Segment von Mundus Novus stand der Name America. «Es ist nicht einzusehen», schrieb Waldseemüller in seiner Introductio, «warum jemand es verbieten sollte, das neue Land nach seinem Entdecker Amerigo zu benennen, einem besonders scharfsinnigen Mann.»
Als Ago Vespucci dies las, begriff er tief bewegt, dass ihn das Schicksal in Gestalt seines Vetters schon immer auf diese Neue Welt zugeführt hatte, obwohl er doch stets ein Sesselhocker gewesen war, der den verrückten Amerigo für eine ziemliche Plaudertasche gehalten hatte, weshalb dessen Berichte über die eigenen Taten auch nur mit einer Prise Misstrauen zu genießen waren. Allerdings hatte er Amerigo nicht besonders gut gekannt und nie versucht, ihn besser kennenzulernen, da sie nur wenig miteinander verband. Nun aber war dieser seefahrende Vespucci ein scharfsinniges Genie geworden, dessen Name zum Namen einer Neuen Welt geworden war, und das allein verdiente Respekt.
Langsam, schüchtern, verzagt und viele Male wiederholend, dass er von Natur aus kein Reisender sei, begann Ago, mit Admiral Doria über die Entdeckungsfahrten seines Vetters zu reden. Es fielen die Namen Venezuela und Vera Cruz. Inzwischen studierte Qara Köz die Karte der Welt. Beim Klang der neuen Ortsnamen war ihr, als hörte sie beschwörende Worte, eine Zauberformel, die ihr die Wünsche ihres Herzens erfüllte. Und sie wollte mehr davon hören, immer mehr. Valparaiso, Nombre de Dios, Cacafuego, Rio Eseondido, sagte Ago. Er lag auf Händen und Knien und las. Tenoehtitldn, Quetzaleoatl, Teuatlipoea, Montezuma, Yueatdn, fügte Andrea Doria hinzu, ebenso Espanola, Puerto Rieo, Jamaika, Kuba, Panama. «Worte, die ich noch nie gehört habe», sagte Qara Köz, «beschreiben mir meinen Weg nach Hause.»

Argalia war tot - «Wenigstens starb er in seiner Heimatstadt und verteidigte, was er liebte», sprach Doria und hob prostend sein Glas Wein zu diesem barsch vorgebrachten Nachruf Ago war ein kümmerlicher Ersatz für einen solchen Mann, doch wusste Qara Köz, er war alles, was ihr geblieben war. Mit Ago würde sie ihre letzte Reise antreten, mit Ago und Spiegel. Sie waren ihre letzten Wächter. Von Doria erfuhren sie, was die meisten gen Westen segelnden Seefahrer glaubten - auch die Herrscher Spaniens und Portugals -, dass man nämlich bald eine Passage nach Indien finden würde, eine Öffnung durch die Landmasse von Mundus Novus ins Gangesmeer, breit genug für Schiffe. Viele Männer suchten eifrig nach dieser Mittelpassage. In den Kolonien Espaiiola und Kuba ließ es sich längst sicher leben, und Panama, das neue Land, würde bestimmt noch sicherer sein. In diesen Gegenden hatte man die meisten Indianer unter Kontrolle, eine Million auf Espaiiola, über zwei Millionen auf Kuba, viele darunter bekehrte Christen, obwohl sie keine christliche Sprache beherrschten. Die Küsten jedenfalls waren sicher, und auch das Landesinnere wurde erschlossen. Wer das nötige Geld besaß, konnte sogar eine Kabine auf einer von Cadiz oder Palos de Moguer ausfahrenden Karavelle buchen.
«Dann werde ich fahren», verkündete die Prinzessin ernst, «und warten. Denn die Öffnung zur Neuen Welt, nach der so viele hervorragende Männer so eifrig fahnden, wird eines Tages gewiss gefunden werden.» Sie stand aufrecht da, die Arme an den Ellbogen abgewinkelt und das Gesicht von überirdischem Glanz erhellt, weshalb Andrea Doria bei ihrem Anblick an Christus denken musste, an den Wunder vollbringenden Nazarener, an Jesus, der Brot und Fische vermehrte oder Lebende von den Toten auferstehen ließ. Qara Köz’ Gesicht zeigte die gleiche angestrengte Miene, die es während der Verzauberung von Florenz getragen hatte, doch wurde sie nun durch Kummer und Verlust noch zusätzlich verdüstert. Ihre Macht ließ nach, aber ein letztes Mal sollte sie noch ausgeübt werden, wie sie nie zuvor ausgeübt worden war, um der Geschichte der Welt jenen Verlauf aufzuzwingen, den Qara Köz sich wünschte. Allein durch die schiere Macht ihrer Zauberkunst und ihres Willens würde sie die Mittelpassage ins Dasein rufen. Andrea Doria schaute auf die junge Frau in olivgrüner Jacke und Hose, auf das kurz gestutzte schwarze Haar, das ihr wie ein dunkler Heiligenschein vom Kopf abstand, und er war überwältigt. Er fiel vor ihr auf die Knie, beugte sich, berührte mit der Hand das Sämischleder ihrer Stiefel und verharrte mit gesenktem Haupt wohl länger als eine Minute. In den folgenden Jahren sollte Doria, der ein hohes Alter erreichte, jeden einzelnen Tag an diesen Vorfall denken und sich doch nie sicher sein, ob er gekniet hatte, um einen Segen zu empfangen oder um ihn zu geben, ob er gemeint hatte, sie anbeten oder sie beschützen zu müssen, ob er sie in ihrer letzten Glorie bewundern oder sie vom sicheren Untergang bewahren wollte. Er dachte an Christus in Gethsemane und daran, wie der Herr auf seine Jünger herabgeschaut haben mochte, als er sich auf den Tod vorbereitete.
«Mein Schiff wird Euch nach Spanien bringen», sagte er.

An der Pier ihres neuen Herrn Andrea Doria setzte das legen-däre Korsarenschiff Cadolin an einem weißnebligen Morgen in Fassolo die Segel und hisste die Flagge Genuas, das Kreuz des heiligen Georg; an Bord drei Passagiere und am Ruder Ceva der Skorpion. Als er Lebewohl sagte, gelang es Andrea Doria, jene Gefühle im Zaum zu halten, die ihn kurz zuvor noch auf die Knie gezwungen hatten. «Die Bibliothek eines Mannes der Tat wird nur selten genutzt», sagte er Qara Köz, «aber Ihr habt meinen Büchern neue Bedeutung verliehen.» Nachdem er die Cosmographiae Introductio gelesen und Waldseemüllers große Karte studiert hatte, war ihm, als dringe die Prinzessin leibhaftig in das Buch ein, als verlasse sie diese Welt von Erde, Luft und Wasser, um ein Universum aus Papier und Tinte zu betreten, als segelte sie über das Ozeanische Meer und käme nicht in Espafiola in Mundus Novus an, sondern auf den Seiten einer Geschichte. Er nahm nicht an, dass er sie in dieser oder der Neuen Welt je wiedersehen würde, denn wie ein Falke hockte der Tod auf ihrer Schulter, um sie eine Weile zu begleiten, bis ihn die Ungeduld packte und er vom Reisen genug hatte.
«Lebt wohl», sagte sie und verschwand ins Weiß. Als Ceva die Cadolin zu gegebener Zeit nach Fassolo zurückbrachte, machte er den Eindruck, als sei nun auch der letzte Funke Lebensfreude in ihm auf immer erloschen. Fast zwei Jahre später hörte Doria von Magellans Entdeckung jener sturmumtosten Meeresenge, durch die Seefahrer, so sie denn Glück hatten, den südlichen Zipfel der Neuen Welt umrunden konnten. In seinen Albträumen sah er die schöne Prinzessin mit ihren Gefährten in der Magellanstraße untergehen, doch sollte während seines ganzen langen Lebens keine verlässliche Nachricht über ihren Aufenthaltsort oder ihr Schicksal zu ihm vordringen. Vierundfünfzig Jahre nach dem Tag, an dem die verschwiegene Prinzessin in Italien Segel gesetzt hatte, tauchte allerdings ein gelb haariger Galgenstrick, kaum zwanzig Jahre alt, am Tor der Villa Doria auf und behauptete, ihr Sohn zu sein. Da war Andrea Doria schon dreizehn Jahre tot, und das Haus gehörte seinem Großneffen Giovanni, Fürst von Melfi und Gründer des großen Hauses derer von Doria, Parnphili und Landi. Falls Giovanni die Geschichte der verlorenen Prinzessin aus dem Hause Timur und Temüdschin je gekannt haben sollte, hatte er sie längst vergessen, weshalb er den zerlumpten Kerl von seiner Tür fortscheuchen ließ. Der junge «Niccolo Antonino Vespucci», so benannt nach den zwei besten Freunden seines Vaters, machte sich danach auf, die Welt zu sehen, segelte hierhin und dorthin, mal als angeheuertes Mitglied der Mannschaft, mal als blinder Passagier, lernte viele Sprachen, eignete sich eine Reihe von Fertigkeiten an, deren Ausübung nicht immer im Einklang mit dem Gesetz stand, und hortete einen eigenen Geschichtenschatz, wilde Erzählungen von seiner Flucht vor den Kannibalen auf Sumatra, von eiergroßen Perlen in Brunei, davon, wie er im Winter vor dem Großen Türken die Wolga hinauf nach Moskau geflohen war, wie er in einer bloß von Stricken zusammengehaltenen Dhau das Rote Meer durchquerte, von der Vielmännerei in jenem Teil von Mundus Novus, in dem Frauen sieben oder acht Ehegatten hatten und es keinem Mann gestattet war, eine Jungfrau zu heiraten, davon, wie er unter dem Vorwand, Muslim zu sein, die Pilgerfahrt nach Mekka angetreten hatte, sowie davon, wie er mit dem großen Dichter Camöes nahe der Mündung des Mekong Schiffbruch erlitt und die Lusiaden rettete, indem er die Blätter mit Camöes’ Gedicht hoch über Wasser hielt, während er nackt an Land schwamm.
Über sich selbst sagte er den Männern und Frauen, denen er auf seinen Reisen begegnete, dass seine Geschichte weit seltsamer als jedes Seemannsgarn sei, doch könne er sie nur einem einzigen Mann auf Erden anvertrauen, dem er eines Tages in der Hoffnung gegenübertreten wolle, dass ihm gegeben werde, was ihm von Rechts wegen zustehe, und dass er von einem mächtigen Zauber beschützt werde, der jene segnete, die ihm halfen, und verfluchte, wer ihm ein Leid zufügte.
«Schirmherr der Welt, es ist die schlichte Wahrheit, dass meine Mutter, die Zauberin, auf grund der Unbeständigkeit chronologischer Konditionen in Mundus Novus», erzählte er dem Herrscher Akbar am Ufer des Anup Talao, «also auf grund der unsteten Natur der Zeit in besagtem Erdenteil, ihre Jugend beträchtlich zu verlängern vermochte und wohl an die dreihundert Jahre alt geworden wäre, hätte sie nicht ihr Herz und die Hoffnung verloren, je wieder heimkehren zu können, weshalb sie zuließ, dass eine tödliche Krankheit sie befiel, auf dass sie sich im Jenseits wenigstens mit den bereits verstorbenen Familienmitgliedern wiedervereinen konnte. Als sie ihren letzten Atemzug tat, flog ein Falke durch das Fenster und hockte sich auf das Totenbett. Das war ihr letzter Zauber, die Herbeirufung dieses ruhmreichen Vogels von jenseits des Ozeanischen Meeres in die Neue Welt. Als der Falke aus dem Fenster flog, wussten wir alle, dass ihre Seele uns verließ. Zum Zeitpunkt des Todes war ich neunzehneinhalb Jahre alt, doch wie sie dalag, sah sie wie meine ältere Schwester aus, nicht wie meine Mutter. Vater und Spiegel waren allerdings normal gealtert. Die Magie von Qara Köz war nicht mehr stark genug, auch für sie den temporalen Kräften zu widerstehen, so wie sie auch nicht mehr stark genug war, die Geographie der Erde zu ändern. Keine Mittelpassage wurde gefunden, und so blieb sie in der Neuen Welt gefangen, bis sie zu sterben beschloss.»
Der Herrscher verharrte stumm, seine Miene war undurch-dringlich, das Wasser des Anup Talao weiterhin aufgewühlt.
«Zu guter Letzt und nach allem, was geschehen ist, sollen wir Euch also glauben», sagte der Herrscher schließlich mit schwerer Stimme, «dass sie gelernt hat, die Zeit zu verlangsamen?»
«Nur in ihrem Körper», erwiderte sein Gegenüber, «und nur für sich allein.»
«Das wäre wahrlich eine erstaunliche Tat, sollte sie denn möglich sein», sagte Akbar, stand auf und ging zurück in den Palast.

An jenem Abend saß Akbar allein auf der obersten Terrasse des Panch Mahal und lauschte in die Dunkelheit. Er glaubte nicht an die Geschichte des Fremden, und er wollte ihm eine bessere erzählen. Er war der Herrscher der Träume; er konnte die Wahrheit aus der Dunkelheit klauben und ans Licht bringen. Er hatte mit dem Fremden alle Geduld verloren und blieb am Ende, wie immer, allein, also schickte er seine Phantasie wie einen Heroldvogel über die Welt, bis er ihm Antwort brachte. Dies war nun seine Geschichte.
Vierundzwanzig Stunden später rief er Vespucci zurück an das Beste aller Möglichen Becken, dessen Wasser vor lauter Verwirrung noch immer aufgewühlt war. Mit grimmiger Miene hob Akbar an: «Signor Vespucci», fragte er, «seid Ihr mit Kamelen vertraut? Hattet Ihr Gelegenheit, die Eigenarten dieser Tiere zu beobachten?» Seine Stimme klang wie leiser Donner, der über das unruhige Wasser rollte. Der Fremde wusste nicht, was er erwidern sollte.

«Warum die Frage, Jahanpanah?», wollte er schließlich wissen, und die Augen des Herrschers blitzten ihn verärgert an.
«Wagt ja nicht, uns Fragen zu stellen, Signor. Wir wiederholen noch einmal: Gibt es Kamele in der Neuen Welt, Kamele, wie wir sie hier in Hindustan haben? Gibt es Kamele unter all den Greifen und Drachen?», fragte Akbar, und als sein Gegenüber den Kopf schüttelte, befahl er ihm mit gehobener Hand zu schweigen und fuhr mit lauter werdender Stimme fort: «Die physische Freiheit eines Kamels, so haben wir oft gedacht, bietet uns gewöhnlichen Sterblichen eine Lektion in Amoralität, denn unter Kamelen ist nichts verboten. Ein junges männliches Kamel mag schon bald nach der Geburt versuchen, mit der eigenen Mutter zu kopulieren. Ein erwachsenes männliches Tier kennt keinerlei Skrupel, die eigene Tochter zu schwängern. Enkel, Großeltern, Geschwister, sie alle kommen in Frage, wenn ein Kamel einen Partner sucht. Für ein Tier hat der Begriff Inzest keinerlei Bedeutung. Wir dagegen sind keine Kamele, nicht wahr? Inzest verbieten uns uralte Tabus, und strenge Strafen erwarten Paare, die dagegen verstoßen - Strafen, die zu Recht bestehen, wie Ihr uns hoffentlich zustimmen werdet.»
Ein Mann und eine Frau segeln in den Nebel und verlieren sich in einer formlosen neuen Welt, in der niemand sie kennt. Auf dem ganzen weiten Erdenkreis haben sie nur einander und die Dienerin. Der Mann ist selbst auch ein Diener, ein Diener der Schönheit, und seine Reise ist eine Reise der Liebe. Sie gelangen an einen Ort, dessen Name so unwichtig ist, wie ihre eigenen Namen es sind. Die Jahre vergehen, und ihre Hoffnungen sterben. Überall um sie herum leben tatkräftige Menschen. Eine wilde Welt im Süden, eine im Norden, die nach und nach gebändigt werden. Gesetz, Form und Gestalt werden dem aufgezwungen, was ursprünglich unveränderlich war, doch ist es ein langer Prozess. Nur mühsam schreitet die Eroberung voran. Man rückt vor, weicht zurück und rückt erneut vor, es gibt kleine Siege, kleine Niederlagen und dann wieder ein wenig Gewinn. Kein Mensch fragt, ob dies gut oder schlecht ist. Das ist keine zulässige Frage. Gottes Werk wird verrichtet, und Gold wird ebenfalls geschürft. Je größer der Tumult um sie herum, desto dramatischer die Siege, je schrecklicher die Niederlage, desto blutiger die Rache der Alten an der Neuen Welt, und desto stiller werden sie, die drei unbedeutenden Menschen, der Mann, die Frau, die Dienerin. Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr werden sie kleiner und unwichtiger. Dann schlägt die Krankheit zu, und die Frau stirbt, aber sie hinterlässt ein Kind, ein Mädchen. Dem Mann bleibt nichts auf Erden als das Kind und die Dienerin, dieses Spiegelbild seiner toten Frau. Gemeinsam ziehen sie die Tochter groß. Angelica, das magische Mädchen. Der Name der Dienerin wird gleichfalls zu Angelica. Der Mann sieht, wie das Kind heranwächst, wie es zu einem zweiten Spiegelbild wird, dem Spiegel ihrer Mutter, ihr genaues Ebenbild.

Die nun schon ältere Dienerin erkennt die verblüffende Ähnlichkeit des heranwachsenden Mädchens mit ihrer Mutter, die Wiedergeburt der Vergangenheit; und spürt das wachsende Verlangen des Vaters. Wie einsam sie sind, die drei, einsam in dieser Welt; die noch nicht gänzlich Gestalt geworden ist; in der Worte wie Taten noch bedeuten können, was sie bedeuten sollen, in der man sein Leben leben muss, so gut es eben geht. Mann und Dienerin sind wie Komplizen, denn auf ihre alten Tage liegen sie beieinander, sie alle drei, und sie vermissen die dahingeschiedene Dritte. Das neue Leben, das wiedergeborene Leben wächst heran und füllt die Leere, die einst das alte Leben einnahm.
Angelica, Angelica, es kommt der Moment; da wandelt sich die gemeinsame Sprache, ein Moment, nach dem gewisse Worte ihre Bedeutung verlieren, so wird zum Beispiel das Wort Vater vergessen, auch die Worte für Kind. Sie leben im Naturzustand, einem Stand der Unschuld, in einem Paradies, in dem die Frucht vom Baum noch nicht gegessen wurde, weshalb sie Gut und Böse nicht kennen. Die junge Frau wächst zwischen Mann und Dienerin heran, und was zwischen ihnen dreien geschieh; geschieht ganz natürlich und fühlt sich rein an sie ist glücklich. Sie ist eine Prinzessin aus dem königlichen Haus Timur und Temüdschin, und sie heißt Angelica, Angelica. Eines Tages wird die Mittelpassage gefunden werden, und mit ihrem geliebten Mann wird sie dann ihr Königreich betreten. Bis dahin wohnen sie in ihrem unsichtbaren Heim, führen ihr anonymes Leben und rekeln sich auf diesem Bet; so liebevoll, so oft, so lange, sie alle drei, der Mann, die Dienerin und das Mädchen. Dann wird ein Kind geboren, ihr Kind, Abkömmling dreier Eltern, ein Junge mit Haar so gelb wie das seines Vaters. Der Mann nennt den Sohn nach seinen engsten Vertrauten. Am Anfang waren drei Freunde. Indem er ihre Namen über das Ozeanische Meer hol; ist ihm, als hätte er sie selbst herübergeholt. Sein Sohn - in ihm leben seine wiedergeborenen Freunde. Die Jahre verstreichen. Aus unbekanntem Grund erkrankt das Mädchen. Etwas stimmt nicht in ihrem Leben. Wer bin ich, fragt sie. In ihrem letzten Gespräch mit ihrem Sohn sagt sie ihm, er solle seine Familie finden, sich mit ihr vereinen, solle auf immer mit dem verbunden bleiben, was er ist, und es nie mehr verlassen, er solle nie wieder aus Liebe, aus Abenteuerlust oder auf der Suche nach sich selbst aufbrechen in die weite Welt. Er ist ein Prinz aus dem königlichen Hause der Moguln. Er muss ausziehen und seine Geschichte erzählen. Ein Falke fliegt durch das Fenster und fliegt mit ihrer Seele wieder hinaus. Auf der Suche nach einem Schiff geht der junge Mann mit gelbem Haar zum Hafen. Der alte Mann und die Dienerin bleiben zurück. Sie sind nicht länger von Bedeutung. Ihre Tat ist getan. «So ist es nicht geschehen», sagte Mogor dell’ Amore. «Meine Mutter war Qara Köz, die Schwester Eures Großvaters, eine mächtige Zauberin; und sie hatte gelernt, wie man die Zeit anhält.»
«Nein», erwiderte der Herrscher Akbar, «hat sie nicht.»

Im Palast ihrer Familie in Ajmer und in Anwesenheit von padi-shah Akbar, ihrem huldvollen Herrscher, dem Schirmherrn der Welt, heiratete Dame Man Bai, Nichte von Mariam-uz-Zamani und Schwester von Raja Man Singh, ihre Jugendliebe Kronprinz Salim an ebendem Tag, den die Hofastrologen dafür festgelegt hatten, dem fünfzehnten Isfandarmudh des Jahres entsprechend dem neuen, vom Herrscher eingeführten Sonnenkalender, also am dreizehnten Februar. Als sie nach dem üblichen Balsamieren und Massieren des prinzlichen Gliedes mit ihrem Gatten in der Hochzeitsnacht endlich allein war, stellte sie zwei Bedingungen, ehe sie ihn in sich eindringen ließ. «Zuallererst einmal», sagte sie, «solltest du deinen Penis nachts besser in eine Rüstung stecken, wenn du noch ein einziges Mal zu dieser Hure gehst, diesem Skelett, denn du weißt nie, wann die Nacht meiner Rache anbrechen wird. Und zum Zweiten musst du dich um den gelbhaarigen Fremden kümmern, Skeletts siffigen Liebhaber, denn solange er in Sikri weilt, könnte dein Vater verrückt genug sein, ihm zu geben, was von Rechts wegen dir zukommt.»
Nach dem, was er am Anup Talao erfahren hatte, gab der Herrscher den Gedanken auf, Niccolo Vespucci in den Rang eines farzand, eines Ehrensohnes, erheben zu wollen. Zutiefst von der Richtigkeit seiner eigenen Version der Geschichte des Fremdlings überzeugt, war er zu dem Schluss gekommen, dass der Abkömmling einer derart unmoralischen Verbindung nicht zum Mitglied der königlichen Familie ernannt werden könne. Trotz Vespuccis offensichtlicher Unschuld in dieser Angelegenheit und obwohl er sich der wahren Umstände seiner Herkunft selbst nicht bewusst zu sein schien, auch ganz unabhängig davon, wie groß sein Charme sein mochte und wie zahlreich seine Talente waren, machte ihn das eine Wort Inzest zur Unperson. Falls gewünscht, ließ sich für einen so fähigen Menschen gewiss eine Beschäftigung finden, und der Herrscher erteilte die Anweisung, eine solche Arbeit ausfindig zu machen und anzubieten, doch der vertraute Umgang zwischen ihnen musste sofort eingestellt werden. Wie zur Bestätigung, dass er die richtige Entscheidung gefallt hatte, zeigte sich das Wasser des Anup Talao wieder in gewohnt beschaulicher Ruhe. Von Umar dem Ayyaren wurde Niccolo Vespucci mitgeteilt, dass es ihm gestattet sei, in der Hauptstadt zu bleiben, doch müsse er sofort aufhören, sich den Beinamen «Mogor dell’ Amore» zu geben. Der ungehinderte Zugang zur Person des Herrschers, den er bislang genossen hatte, sei, das müsse er verstehen, nun auch Teil der Vergangenheit. «Von heute an», informierte ihn der Ayyar, «wird man Euch wie einen gewöhnlichen Sterblichen behandeln.»
Die Rachsucht der Prinzen kennt keine Grenzen. Selbst ein so tiefer Sturz wie der von Vespucci stellte Dame Man Bai nicht zufrieden. «Wenn sich die Einstellung des Herrschers derart rasch von Zuneigung in Abweisung wandelt», argumentierte sie, «kann das Pendel gleich schnell auch wieder in die Gegenrichtung ausschlagen.» Solange der Fremdling in der Stadt blieb, war die Thronfolge von Prinz Salim nicht gesichert. Zu ihrem großen Verdruss aber unternahm Prinz Salim nichts weiter gegen seinen gestürzten Rivalen, der sich weigerte, jenen bürokratischen Posten anzunehmen, den Akbars Funktionäre für ihn ausgesucht hatten, um lieber im Hause Skanda bei Skelett und Matratze zu bleiben und sich ganz dem Vergnügen der Gäste zu widmen. Voller Verachtung sagte Man Bai: «Skrupellos hast du einen großen Mann wie Abul Fazl getötet, was also hält dich davon ab, dich um diesen Zuhälter zu kümmern?» Doch Salim fürchtete das Missfallen seines Vaters und hielt sich zurück. Bald darauf aber gebar ihm Man Bai einen Sohn, Prinz Khusraw, und das änderte alles. «Jetzt musst du nicht nur deine eigene Zukunft, sondern auch die deines Erben sichern», sagte Dame Man Bai, und diesmal wusste ihr Salim nichts entgegenzusetzen.
Dann starb Tansen. Die Musik des Lebens war verstummt.
Der Herrscher brachte den Leichnam des Freundes zurück in dessen Heimatstadt Gwaliot, ließ ihn neben dem Schrein sei-nes Lehrers bestatten, des faqir Scheich Mohammed Ghaus, und kehrte voller Verzweiflung heim nach Sikri. Ein strahlendes Licht nach dem anderen war erloschen. Vielleicht hatte er dem Mogul der Liebe doch Unrecht getan, sinnierte Akbar auf dem Rückweg, vielleicht war Tansens Tod die entsprechende Strafe. Kein Mensch konnte schließlich für das Fehlverhalten seiner Vorfahren verantwortlich gemacht werden. Außerdem hatte Vespucci seine Loyalität zum Herrscher allein schon dadurch bewiesen, dass er nicht aus Sikri fortgezogen war. Also konnte er kein bloßer Opportunist sein. Womöglich wurde es Zeit, ihn zu rehabilitieren, immerhin waren mehr als zwei Jahre vergangen. Als die Karawane des Herrschers Hiran Minar passierte und den Hügel hinauf zum Palastgelände zog, fasste er einen Entschluss und schickte einen Läufer zum Hause Skanda, um den Fremdling zu bitten, sich doch am nächsten Morgen im Pachisi-Hof einzufinden.
Dame Man Bai verfügte in jedem Stadtviertel über ein Netz von Informanten, um für ebendiesen Moment gerüstet zu sein, und kaum eine Stunde nach Ankunft des Läufers im Hause Skanda war die Frau des Kronprinzen darüber informiert, dass der Wind sich gedreht hatte. Gleich ging sie zu ihrem Mann und schalt ihn, wie eine Mutter ein störrisches Kind ausschimpft. «Heute Abend», sagte sie, «kannst du beweisen, was du für ein Mann bist.» Die Rachsucht der Prinzen kennt keine Grenzen. Um Mitternacht saß der Herrscher still oben auf der Terrasse des Panch Mahal und erinnerte sich an jenen legendären Abend, an dem Tansen im Hause Skanda den deepak raag gesungen und nicht nur alle Öllampen, sondern auch sich selbst entflammt hatte. Noch in dem Moment, da er dieser Erinnerung nachhing, flackerte tief unter ihm am Uferrand des Sees eine roten Flammenblüte auf, und erst nach einem dumpfen Moment des Nichtverstehens begriff er, dass in der Nacht ein Haus brennen musste. Sobald er herausfand, dass das Haus Skanda bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, packte ihn flüchtiges Entsetzen, da er sich fragte, ob das Feuer in seinen Gedanken irgendwie dieses andere, tödlichere Feuer ausgelöst haben könnte. Trauer erfüllte ihn bei der Vorstellung, Niccolo Vespucci müsse tot sein. Doch als die qualmende Ruine durchsucht wurde, fand man keine Spur vom Leichnam des Fremdlings. Unter den verkohlten Trümmern waren auch keine Überreste von Skelett und Matratze zu finden, ja, sämtliche Damen des Etablissements sowie alle Kunden des Hauses schienen rechtzeitig entkommen zu sein. Dame Man Bai war nicht die einzige Person in Fatehpur Sikri, die ihre Ohren weit aufgesperrt gehalten hatte. Das Skelett hatte ihre frühere Dienstherrin schon viel zu lange gefürchtet.
Als der Herrscher vom Verschwinden des Fremdlings hörte, von der mysteriösen Art und Weise, mit der er sich mitten aus einem brennenden Haus heraus in Luft aufgelöst hatte - was viele Bürger der Stadt bereits veranlasste, ihn für einen Zauberer zu halten -, fürchtete er das Schlimmste. Jetzt werden wir ja sehen, dachte er, ob es mit all seinem Gerede über Flüche etwas auf sich hatte. Am Morgen nach dem Feuer fand man am anderen Ufer des Sees das flache Transportschiff Gunjayish, versenkt durch ein großes Loch im Rumpf, das offenbar voller Wut mit einer Axt hineingeschlagen worden war. Niccolo Vespucci, der Mogul der Liebe, hatte sich auf immer davongemacht, doch nicht durch Zauberei, sondern an Bord eines Schiffes, und die beiden Frauen hatte er mitgenommen. Eine Eislieferung aus Kaschmir traf ein, doch gab es kein Schiff, sie über den See von Sikri zu bringen. Die komfortableren Passagierschiffe Asayish und Arayish mussten zu diesem Dienst herangezogen werden, und sogar das kleine Kurierskiff Farmayish belud man bis an die Wasserkante mit Eisblöcken. Er straft uns mit Wasser, dachte der Herrscher. Nun, da er fort ist, lässt er uns nach seiner Gegenwart dürsten. Als Prinz Salim auf Drängen von Dame Man Bai bei ihm vorsprach, um das ver-schwundene Trio anzuklagen, es habe das eigene Haus in Brand gesetzt, konnte der Herrscher das schlechte Gewissen seines Sohnes wie ein Leuchtfeuer auf dessen Stirn brennen sehen, doch sagte er kein Wort. Was geschehen war, war geschehen. Er gab Anweisung, den Fremden und seine Frauen entkommen zu lassen. Er wollte sie nicht verfolgen, wollte nicht, dass sie sich für das versenkte Schiff verantworten mussten. Sollten sie in Frieden ziehen. Er wünschte ihnen alles Gute, diesem Mann in einem Mantel aus bunten Lederflicken, der Frau, die dünn wie eine Messerklinge war, sowie ihrer gummiballdicken Gefährtin. War die Welt gerecht, würde sich selbst für Menschen, die so schwer wie jene drei zufriedenzustellen waren, ein geruhsames Eckchen finden lassen. Vespuccis Geschichte war zu Ende. Nach der letzten Seite war er hinüber auf die leere Seite gewechselt, hatte die illuminierten Grenzen der bestehenden Welt verlassen und das Reich der Untoten betreten, jener armen Seelen, deren Leben endet, ehe sie zu atmen aufhören. Der Herrscher am Seeufer wünschte dem Mogul der Liebe ein sanftes Fortdauern im Jenseits und einen schmerzlosen Tod; dann wandte er sich ab. Man Bai hasste die unfertige Natur dessen, was ihr zu Ohren drang, doch lechzte sie vergebens nach Blut. «Schick ihnen Männer hinterher, die sie umbringen», schrie sie ihren Gatten an, doch der befahl ihr zu schweigen, und zum ersten Mal in seinem bislang so unbedeutenden Leben ließ er erahnen, welch bedeutender Herrscher er einst werden würde. Die Vorfälle der letzten Tage hatten ihn verstört, und Neues regte sich in ihm, etwas, das es ihm ermöglichen würde, die rebellische Jugend hinter sich zu lassen und ein edler, kultivierter Mensch zu werden. «Die Tage, in denen ich getötet habe, sind vorbei», sagte er. «Von jetzt an halte ich es für eine größere Tat, ein Leben zu retten, als eines zu vernichten. Bitte mich nie wieder, ein derartiges Unrecht zu tun.» Der Gesinnungswandel des Kronprinzen kam zu spät. Die Zerstörung von Fatehpur Sikri hatte begonnen. Früh am nächsten Morgen stieg panischer Lärm zu den Schlafgemächern des Herrschers auf, und kaum hatte dieser sich den Hügel hinab, durch den Tumult am Wasserwerk und die noch lautere Kakophonie in der Karawanserei tragen lassen, sah er, dass etwas mit dem See vor sich ging. Langsam, von Minute zu Minute, gleichsam im Schritttempo, zog sich das Wasser zurück. Er ließ die füh-renden Ingenieure der Stadt kommen, doch vermochten sie das Phänomen nicht zu erklären. «Der See verlässt uns», schrien die Menschen, der goldene, Leben spendende See, den einst ein zur Dämmerung eintreffender Reisender für einen See aus geschmolzenem Gold gehalten hatte. Ohne den See würden die Eisblöcke dem Palast kein frisches Gebirgswasser liefern. Ohne den See würden die Bürger der Stadt, die sich kein Eis aus Kaschmir leisten konnten, nichts zu trinken haben, nichts zum Waschen, nichts zum Kochen, und ihre Kinder würden bald sterben. Ohne den See war die Stadt nur eine dürre, welke Hülse. Das Wasser lief immer weiter ab. Der Tod des Sees war auch das Ende von Sikri. Ohne Wasser sind wir nichts. Selbst ein Herrscher würde ohne Wasser alsbald zu Staub zerfallen. Wasser ist der wahre Monarch, und wir sind seine Sklaven.
«Evakuiert die Stadt», befahl der Herrscher Akbar.

Für den Rest seines Lebens sollte der Herrscher glauben, das unerklärliche Verschwinden des Sees von Fatehpur Sikri sei die Tat jenes Fremdlings gewesen, den er zu Unrecht verschmäht hatte, den er erst wieder an sein Herz ziehen wollte, als es bereits zu spät gewesen war. Der Mogul der Liebe hatte Feuer mit Wasser bekämpft und gewonnen. Es dürfte Akbars verheerendste Niederlage gewesen sein, doch war sie nicht sein Ruin. Moguln waren auch zuvor schon Nomaden gewesen und konnten wieder zu Nomaden werden. Die Zeltarmee stand bei Fuß, jenes Heer der Künstler faltbarer Heimstätten, zweieinhalbtausend Mann, dazu Kamele und Elefanten, bereit loszumarschieren, sobald der Befehl kam, und die Stoffpavillons dort zu errichten, wo er zu ruhen gedachte. Sein Reich war zu riesig, die Truhen zu prall gefüllt, die Armee zu stark, um durch einen einzigen Streich vernichtet werden zu können, und sollte es auch ein so mächtiger Streich wie dieser sein. Im nahen Agra gab es Paläste und ein Fort, ein weiteres in Labore. Der Reichtum der Moguln war unermesslich. Er musste Sikri verlassen, musste seine geliebte rote Stadt aus Rauch und Schatten einsam in einer Gegend zurücklassen, die plötzlich vertrocknet war, musste sie auf alle Zeit als ein Symbol der Vergänglichkeit hinterlassen, als ein Symbol der Unvermitteltheit, mit der auch den einflussreichsten Herrscher und machtvollsten Monarchen Änderungen überfallen konnten. Doch er würde überleben. Metamorphosen zu überstehen, das war es schließlich, was es hieß, Fürst zu sein. Und als Fürst war er nur ein Bürger an prominenter Stelle, ein in den Rang des nahezu Göttlichen erhobener Mann, denn auch das gehörte zum Menschsein: Metamorphosen zu überstehen und weiterzumachen. Der Hof würde fortziehen, und viele Diener, viele Edelleute würden mitkommen, nur für die Bauern war kein Platz in jener letzten Karawane, die je die Karawanserei verlassen sollte. Den Bauern blieb nur, was sie schon immer gehabt hatten: nichts. Sie würden sich im riesigen Hindustan in alle Himmelsrichtungen verstreuen, und ihr Überleben war allein ihre Angelegenheit. Und trotzdem erheben sie sich nicht~ um uns niederzumetzeln, dachte der Herrscher. Sie finden sich mit ihrem armseligen Los ab. Wieso nur? Wieso? Sie sehen doch, wie wir sie im Stich lassen, und dienen uns immer noch. Auch dies bleibt ein Rätsel.
Es dauerte zwei Tage, den großen Umzug vorzubereiten. Und für zwei Tage blieb ihnen noch genug Wasser. Am Ende dieser Zeit war der See leer, und nur eine morastige Senke zeigte an, wo einst Süßwasser geglitzert hatte. Noch zwei Tage, und auch der Morast würde staubtrocken und sonnengebacken sein. Am dritten Tag zogen die königliche Familie und ihre Höflinge auf der Straße nach Agra davon, der Herrscher aufrecht auf seinem Ross, in ihren Sänften die kostbar gekleideten Königinnen. Dem herrschaftlichen Tross folgten die Edelleute, daran schloss sich die ungeheure Kavalkade der Diener und Leibeigenen an. Den Abschluss machten die Ochsenkarren, die von den Handwerkern mit ihrem Werkzeug und ihren Waren beladen worden waren. Metzger, Bäcker, Bildhauer, Huren. Für talentiertes Personal war immer Platz. Handwerkliches Können ließ sich transportieren, Land nicht. Die Bauern, die wie mit Fesseln an das jetzt dürre, sterbende Land gebunden waren, sahen der großen Prozession hinterher. Dann aber, als wäre die Menge fest entschlossen, sich eine Nacht zu verlustieren, ehe das Elend ihres übrigen Lebens begann, marschierten die im Stich gelassenen Menschen den Hügel hinauf zum Palast. Heute Nacht, nur diese eine Nacht, wollte das gemeine Volk Menschen-Pachisi im königlichen Hof spielen und wie einst der Herrscher oben im steinernen Baum im Haus der Privataudienz hocken. Heute Nacht konnte ein Bauer auf der höchsten Terrasse des Panch Mahal sitzen und Monarch über allem sein, was ihm zu Füßen lag. Wer wollte, konnte heute Nacht sogar in den Schlafgemächern des Herrschers ruhen.
Morgen jedoch würden sie einen Weg finden müssen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Nur ein Mitglied des königlichen Haushaltes sollte Fatehpur Sikri nicht mehr verlassen. Nachdem das Haus Skanda nieder-gebrannt war, fiel Dame Man Bai in einen Zustand geistiger Umnachtung; erst kreischte sie und schrie nach Blut, dann aber, gemaßregelt durch Prinz Salim, versank sie in Melancholie, in eine tiefe Trauer, die sie abrupt verstummen ließ. Mit Sikris Tod endete auch ihr Leben. Von Schuld übermannt, vielleicht auch von der Last ihrer Verantwortung für das Ende der Hauptstadt des Mogulreiches, nutzte sie im Chaos jener letzten Tage einen Augenblick der Einsamkeit, verzog sich in eine Ecke ihres Palastes, wo sie von keiner Dienerin gesehen werden konnte, aß Opium und starb. Und so begrub Prinz Salim noch sein geliebtes Weib, ehe er sich in Trauer zu seinem Vater an der Spitze des großen Zuges gesellte. Auf diese Weise fand die lange Feindschaft zwischen Man Bai und dem Skelett ein tragisches Ende. Als aber Akbar an jenem Kraterbecken vorüberritt, den Sikris lebensspendender See hinterlassen hatte, begriff er, unter wel-cher Art Fluch er litt. Es war die Zukunft, die verwünscht worden war, nicht die Gegenwart. In der Gegenwart blieb er unbesiegbar. Wenn ihm der Sinn danach stand, konnte er zehn neue Sikris bauen lassen. Doch wenn es ihn einmal nicht mehr gab, würde alles, was er gedacht hatte, was zu schaffen er getrachtet hatte, seine Philosophie und seine Lebensweise, wie Wasser verdunsten. Die Zukunft würde nicht so sein, wie er sie sich erhofft hatte, sondern ein trockner, feindseliger, widriger Ort, an dem Menschen überlebten, so gut sie es eben vermochten; sie würden ihre Nachbarn hassen, würden Gotteshäuser niederreißen und einander wieder in der neu entfachten Hitze jener großen Fehde erschlagen, die er auf immer zu beenden gehofft hatte, den Streit um und über Gott. Nicht die Zivilisation, sondern Rücksichtslosigkeit würde in der Zukunft den Ton angeben. «Wenn das Eure Lektion für mich ist, Mogul der Liebe», sprach er stumm den geflohenen Fremdling an, «dann ist der Titel falsch, den Ihr Euch gegeben habt, denn in dieser Version der Welt ist nirgendwo Liebe zu finden.,, An jenem Abend aber kam Qara Köz in sein Brokatzelt, die verschwiegene Prinzessin, schön wie eine Flamme. Dies war nicht die maskuline, kurzgeschorene Kreatur, in die sie sich verwandelt hatte, um aus Florenz zu fliehen, sondern die Prinzessin in all ihrer jugendlichen Schönheit, jenes unwiderstehliche Geschöpf, das schon Schah Ismail von Persien und auch Argalia bezaubert hatte, den Türken, den Florentiner Janitscharen, den Träger der Verwunschenen Lanze. An jenem Abend auf Akbars Rückzug von Sikri sprach sie ihn zum ersten Mal an. Es gibt da etwas, sagte sie, da habt Ihr Euch geirrt.

Sie war unfruchtbar. Sie war die Geliebte eines Königs und eines großen Kriegers gewesen, doch hatte es in beiden Fällen keine Nachkommen gegeben. Und auch in der Neuen Welt hatte sie kein Mädchen geboren, sie war also ohne Kind geblieben.

Wer dann war des Fremdlings Mutter, verlangte der Herrscher erstaunt zu wissen. In den Spiegeltafeln an den Wänden des Brokatzeltes fing sich das Kerzenlicht, dessen Widerschein in seinen Augen tanzte. Ich hatte einen Spiegel, sagte die verschwiegene Prinzessin. Sie war mir wie mein eigenes Widerbild im Wasser, wie das Echo meiner Stimme. Wir haben alles miteinander geteilt, auch unsere Männer, doch konnte sie eines sein, was ich nie zu werden vermochte. Ich war eine Prinzessin, sie aber wurde Mutter.

«Der Rest ist ungefähr so gewesen, wie Ihr es Euch gedacht habt», sagte Qara Köz. «Spiegels Tochter war das Spiegelbild ihrer Mutter und jener Frau, deren Spiegelbild Spiegel gewesen war. Und es hat Tode gegeben, ja. Die Frau, die jetzt vor Euch steht, die Ihr zum Leben zurückgebracht habt, ging als Erste. Später erzog Spiegel ihr Kind in dem Glauben, sie sei, wer sie nicht war, die Frau, die einst die Mutter des Mädchens gespiegelt und auch geliebt hatte. Das Verwischen der Generationen, der Verlust der Wörter Vater und Tochter, die Substitution anderer, inzestuöser Wörter. Ihr Vater, der ihr Mann wurde. Das Verbrechen wider die Natur ist begangen worden, doch nicht von mir, und ich habe kein Kind, das man derart geschändet hat. In Sünde geboren, starb die Kleine früh, ohne je zu erfahren, wer sie war. Angelica, ja, Angelica, so lautete ihr Name. Ehe sie starb, schickte sie ihren Sohn aus, damit er Euch aufspüre und um das bitte, was er nie hätte fordern dürfen. Am Totenbett blieben die Verbrecher stumm, als Spiegel und Herr aber vor ihrem Gott standen, wurden sämtliche Taten offenbar.» Das also war die Wahrheit. Niccolo Vespucci, den man in dem Glauben erzogen hatte, ein Prinz zu sein, war ein Kind des Spiegels Kind. Beide aber, er wie seine Mutter, hatten keinen Anteil an diesem Betrug. Sie waren die Betrogenen.
Der Herrscher verstummte und dachte über die von ihm be-gangene Ungerechtigkeit nach, für die er mit dem Untergang seiner Hauptstadt bestraft worden war. Der Fluch des Unschuldigen hatte den Schuldigen getroffen. In Demut neigte er sein Haupt. Qara Köz, Dame Schwarzauge, die verschwiegene Prinzessin, setzte sich ihm zu Füßen und strich ihm sanft über die Hand. Die Nacht entschwand. Ein neuer Tag begann. Die Vergangenheit war bedeutungslos. Es gab nur die Gegenwart - und ihre Augen. Unter ihrem unwiderstehlichen Blick verwischten sich die Generationen, sie überblendeten sich, lösten sich auf. Doch sie war für ihn verboten. Nein, nein, sie konnte nicht verboten sein. Wie sollte das, was er für sie empfand, ein Vergehen wider die Natur sein können? Wer wollte es wagen, dem Herrscher zu verbieten, was sich der Herrscher selbst gestattete? Er war der Richter über das Gesetz, seine Verkörperung, und in seinem Herzen war keine Sünde.
Er hatte sie von den Toten zurückgeholt und ihr die Freiheit der Lebenden gewährt, hatte sie erlöst, auf dass sie wählen und gewählt werden konnte, und sie hatte ihn erwählt. Als wäre das Leben ein Fluss und Menschen die Trittsteine in seinem Strom, hatte sie die fließenden Jahre überquert und war zurückgekehrt, um seine Träume zu füllen, den Platz einer anderen Frau in seiner khayal einzunehmen, in seiner gottgleichen, omnipotenten Phantasie. Vielleicht war er nicht mehr sein eigener Herr. Was, wenn er ihrer müde wurde? - Nein, er würde ihrer niemals müde werden. - Doch konnte sie überhaupt verbannt werden? Entschied sie allein, ob sie ging oder blieb? «Letztlich bin ich also doch noch heimgekehrt», sagte sie. «Ihr habt es mir erlaubt, und so bin ich hier, am Ende meiner Reise. Und nun, Schirmherr der Welt, gehöre ich Euch.»
Bis du nicht mehr bist, dachte der allumfassende Herrscher. Bis du nicht mehr bist, meine Liebe.